»Oder er kannte sie«, warf Jacob ein.
»Daran haben wir auch schon gedacht«, erwiderte der Marshal. »Wir haben sofort die Häuser der Bankangestellten durchsucht, ohne Erfolg.«
»Weshalb glauben Sie, das Geld bei uns finden zu können?« fragte Aaron Zachary, nach dem Tod seines Bruders der älteste Sohn des Predigers.
»Bis jetzt ist es in der Stadt nicht aufgetaucht. Vielleicht deshalb nicht, weil es gar nicht mehr in der Stadt ist.«
»Das ist aber sehr weit hergeholt«, fand Aaron.
»Gar nicht«, belehrte ihn Webb. »Es ist im Gegenteil sehr auffällig, daß die Bank just in der Nacht vor Ihrem Aufbruch ausgeräumt wurde.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß das jemand von unseren Leuten getan hat«, meinte Abner Zachary kopfschüttelnd, wandte sich zur Seite und blickte an der langen Wagenreihe entlang. »Nein, wirklich nicht!«
»Das läßt sich leicht feststellen, Mr. Zachary«, sagte der Marshal. »Lassen Sie uns die Wagen durchsuchen, und wir wissen es genau.«
»Nein!« sagte da hart Aaron Zachary. »Wir haben es eilig, und die Durchsuchung sämtlicher Wagen dauert zu lange.« Er blickte den Anführer der Posse abweisend an. »Außerdem liegen die Stadtgrenzen viele Meilen hinter uns. Sie befinden sich außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs, Marshal!«
Webb blieb ruhig, als er entgegnete: »Das sehen Mr. Asquith und alle Bürger, die ihm ihr mühsam verdientes Geld anvertraut hatten, anders. Sie meinen nämlich, der Marshal von Kansas City sei überall dort zuständig, wo sich die Dollars der Bürger von Kansas City befinden.«
Aaron blieb unversöhnlich. »Sie haben kein Recht zur Durchsuchung der Wagen, Webb. Und Sie können uns nicht zwingen, diese Aktion zu dulden.«
»Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht sicher«, meinte der Marshal und legte wie beiläufig die Rechte auf den Kolben des sechsschüssigen 44ers, der im Lederhol ster an seiner rechten Hüfte steckte.
Seine Deputys und die anderen Mitglieder der Posse folgten seinem Beispiel. Revolver wurden in den Holstern gelockert und Karabiner aus den Scabbards gezogen.
Die sich bedroht fühlenden Auswanderer wollten nicht nachstehen. Wer von den Männern um Zacharys Conestoga eine Waffe bei sich trug, machte sich bereit, sie zu gebrauchen.
Jacob allerdings zögerte, weil er keinen Anlaß für eine bewaffnete Auseinandersetzung sah. Vielmehr schienen sich die Antipathien, die sich während des versuchten Lynchmords aufgestaut hatten, ein Ventil zu suchen.
Abner Zachary entschärfte die Situation, als er erklärte: »Wir haben nichts zu verbergen, Marshal. Um Ihnen das zu beweisen, sind wir bereit, Ihre Männer in unsere Wagen zu lassen. Fangen Sie gleich mit meinem an.«
Aaron Zachary nahm das höchst unwillig auf, wagte aber nicht, gegen seinen Vater aufzubegehren.
Während die Deputys Begley und Stoner von ihren Pferden stiegen und auf den Conestoga kletterten, verteilten sich die anderen Posse-Mitglieder über den Treck, um die übrigen Wagen zu durchsuchen. Die Nachricht von dem gestohlenem Geld verbreitete sich rasch über alle Wagen und sorgte für erregte Debatten über den Diebstahl.
Begley und Stoner sprangen schließlich aus dem Conestoga, ohne das gesuchte Geld oder sonst etwas Verdächtiges gefunden zu haben, und wandten sich dem nächsten Wagen zu. Aber auch dort wurden sie nicht fündig, und den übrigen Männern der Posse erging es ebenso. Wo die achtzigtausend Dollar auch stecken mochten, jedenfalls nicht in den Wagen der Auswanderer.
Nach einer Stunde verabschiedete sich Marshal Webb, und die Reiter galoppierten zurück nach Kansas City.
»Ich hab's doch gleich gesagt«, knurrte Aaron Zachary. »Pure Zeitverschwendung. Eine Frechheit, daß man uns verdächtigt, Diebe zu sein!« Mit finsterem Blick sah er der Posse nach.
»Laß es gut sein, Aaron«, sagte sein Vater. »Wir haben uns in Kansas City nicht gerade mit Ehrenhaftigkeit bekleckert. Wir sind keine Diebe, aber wir wären fast zu Mördern geworden.«
Aaron bedachte auch seinen Vater mit einem düsteren Blick, riß dann sein stämmiges Quarterhorse herum und hob die Hand, um dem Treck den Wink zur Weiterfahrt zu geben.
In diesem Moment erschien die Gestalt eines einzelnen Reiters auf der Kuppe des nächsten der sanften Hügel, die sich wellenartig über die Prärie hinzogen. Der in hellbraunes Wildleder gekleidete Mann ließ seinen sehnigen Schecken weit ausgreifen und kam dem Treck schnell näher. Bald sahen die Auswanderer die hageren Züge in dem sonnenverbrannten Gesicht und erkannten ihren Scout, Oregon Tom.
Als er den Treck erreichte, stand Verwunderung auf seinem Abner Zachary zugewandten Gesicht.
»Was ist los, Captain? Haben Sie sich diesen Platz für die Mittagsrast ausgesucht?«
»Wir haben nicht freiwillig angehalten«, antwortete Aaron für seinen Vater und erzählte Oregon Tom, was sich ereignet hatte.
Dessen Gesicht wurde noch verwunderter, und er meinte schließlich: »Für achtzigtausend Dollar würde ich auch einen Treck durchsuchen. Na schön, machen wir doch gleich hier unsere Mittagspause. Das Land ändert sich auf den nächsten Meilen nicht. Ein Lagerplatz ist so gut wie der andere.«
»Sollten wir nicht lieber noch ein paar Meilen zurücklegen?« fragte Jacob. »Noch sind die Tiere einigermaßen frisch.«
»Dann müssen wir sie jetzt wieder in Gang bringen und nach der Rast noch einmal. Glauben Sie mir, es ist besser, wenn wir das gleich hinter uns bringen.«
»Mr. Bidwell wird recht haben«, meinte der Prediger. »Er kennt sich schließlich mit diesen Dingen aus.« Er sah den Scout fragend an. »Sollen die Wagen eine Burg bilden?«
Oregon Tom nickte. »Das ist immer sicherer.«
Jacob runzelte seine Stirn.
»Wir sind doch noch in der Nähe von Kansas City. Wilde Indianer wird es hier kaum geben.«
»Die nicht. Aber mit Banditen muß man immer rechnen. Denken Sie an die Bushwackers, die den Bürgerkrieg für ihre eigenen Raubzüge nutzen.«
Dem konnte Jacob nicht widersprechen, hatte er doch selbst schon zwei unliebsame Zusammenstöße mit dem berüchtigsten Bushwacker-Führer, William Clarke Quantrill, gehabt. Eine Narbe auf Jacobs linker Wange, wo eine Kugel ihm ein Stück Haut herausgerissen hatte, zeugte davon.
Die Auswanderer trieben die Zugtiere noch einmal an, um die Wagen zu einer Ellipse zusammenzufahren. Dann wurden die Gespanne zum Grasen von den Wagen gebunden, aber man schirrte sie, um Zeit zu sparen, nicht aus. Die Frauen und Kinder bereiteten derweil die Feuerstellen vor.
Als die Auswanderer beim Essen zusammensaßen, gab es nur ein Gesprächsthema: das verschwundene Geld aus der Asquith Trading Bank.
*
Es dauerte mehr als vier Stunden, bis sich der Treck wieder in Bewegung setzte.
Jacob hatte jetzt den Platz auf dem Bock eingenommen und war gezwungen, jede Menge Staub zu schlucken.
Die Zugtiere fielen bald wieder in ihren monotonen Trott, setzten stumpfsinnig ein Bein vor das andere und schienen taub zu sein für die brüllenden Anfeuerungen der Wagenlenker und das Knallen der Peitschen. Und auch über die Auswanderer senkte sich nach ein, zwei Stunden die Lethargie, die das immer gleiche, langsame Vorwärtsrumpeln der Wagen und die Einförmigkeit der Landschaft mit sich brachten.
Die Prärie bot fast ebensowenig Abwechslung wie der Atlantik, den Jacob, Martin und Irene auf dem Dreimaster ALBANY überquert hatten. Statt Wasser gab es hier trockenes Gras, statt Wellen die sanft geschwungenen Hügel. Aber sonst gab es kaum einen Unterschied. Derselbe Himmel spannte sich kuppelartig über die Weite, um am fernen Horizont mit ihr zu verschmelzen.
Hatten auf dem Schiff drangvolle Enge und erbärmlicher Gestank die Auswanderer belästigt, so waren es hier die ständigen Staubwolken, die in der Luft lagen, durch sämtliche Ritzen drangen und sich bald auf allem niederlegten. Die feinen Körner durchsetzten die Wäsche, und selbst das Essen schmeckte staubig.