»Du bist jetzt der Mann in eurer Familie, Johnny. Das heißt, du mußt sehr tapfer sein und auf deine Mutter und deine Schwester aufpassen. Im Moment besonders auf deine Mutter, glaube ich.«
Der Junge nickte ernst.
»Ich weiß, Mr. Adler.«
Als der Treck weiterzog, wünschten sich die Auswanderer, den Büffeln niemals begegnet zu sein.
*
Als der einsame Reiter den Ort erreichte, an dem der Treck beinah von den wildgewordenen Büffeln in Grund und Boden getrampelt worden wäre, waren die Wagen nur noch kleine Punkte am westlichen Horizont.
Das von den Auswanderern gelegte Feuer verlöschte allmählich. Der Wind hatte es auf eine fast graslose Fläche zugetrieben. Auf dem kargen Boden aus Felsgestein und Sand fanden die Flammen nicht genügend Nahrung und gingen mit einem letzten Aufflackern ein.
Der Reiter bewunderte den Erfindungsreichtum der Auswanderer, aber er wußte nicht recht, ob er sich über das Feuer freuen sollte. Hätten die Büffel den Treck überrannt, wäre seine Aufgabe vielleicht um vieles einfacher geworden.
Aber auch so würde er es schaffen. Er hatte Zeit, viel Zeit. Irgendwann, bevor der Treck die fernen Berge erreichte, würde er zuschlagen. Bis dahin würde er dem Treck weiter folgen und ihn beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Er rief dem Piebald einen gutturalen Laut zu, und das wendige Pferd trug ihn weiter. Er ritt nur langsam.
Erst wenn sich die Sonne schlafengelegt hatte, würde er sich dem Treck nähern. Vielleicht brachte schon diese Nacht seine große Chance.
*
Sobald an diesem Abend die Wagen zur Burg zusammengefahren waren und die Auswanderer ihr Vieh versorgt hatten, hielt Abner Zachary den angekündigten Gottesdienst. Er pries Ben Millers Vorzüge, wie es bei Leichenreden üblich war, und bat den Herrn, den Verstorbenen mit besonderer Güte zu empfangen.
Agnes Miller schien sich wieder gefaßt zu haben. Kerzengerade stand sie neben ihren Kindern, und keine Träne rollte über ihr Gesicht, während sie dem Prediger aufmerksam lauschte.
Nur ein paar der anderen Frauen weinten. Und Ben Millers Töchter, die neunzehnjährige Cora und die achtjährige Ann, die sich gerade erst von einem schweren Fieber erholt hatte.
Zum Abschluß des Gottesdienstes priesen die Auswanderer den Herrn in einem von Abner Zachary angestimmten Lied, das kaum verklungen war, als ein lauter Ruf über das Lager hallte.
»Ein Wagen kommt!«
George Kelley, der außerhalb der Wagenburg Wachdienst bei der Herde hatte, hatte den Ruf ausgestoßen.
Schlagartig war die feierliche, melancholische Stimmung des Gottesdienstes wie weggewischt. Die Menschen strömten zu den Rändern ihres Lagers und quollen zwischen den ellipsenförmig zusammengestellten Planwagen hervor.
Seit dreieinhalb Tagen, seit ihrem Aufbruch von Kansas City und der Begegnung mit Marshal Webbs Posse, hatten sie keine Fremden mehr gesehen. Gemessen an den vielen Wochen und Monaten in der Wildnis, die noch vor ihnen lagen, mochte das so gut wie nichts sein. Aber den Auswanderern in der endlosen Einöde kam es bereits vor wie eine kleine Ewigkeit.
Fragen schwirrten von Mund zu Mund.
Wer mochte da durch die Dunkelheit kommen?
Aus welchem Grund war der Treck das Ziel des Wagens?
Oder war es nur eine zufällige Begegnung?
Ein kleiner, leichter Planwagen schälte sich aus der nur vom blassen Licht der Gestirne erhellten Dunkelheit. Die vier kräftigen Pferde des Gespanns hatten keine Mühe, ihn zu ziehen. Hinter dem Wagen war ein fünftes Pferd angebunden, ein schlanker, rötlichgelb gefleckter Pinto.
Die Fackeln der Auswanderer warfen ihr flackerndes Licht auf den Wagen, der in denselben Farben gehalten war wie so viele andere Fahrzeuge des Trecks: blauer Kasten und rote Räder. Jacob nahm das aber nur am Rande wahr. Gebannt starrte er auf die Gesichter der beiden Menschen, die auf dem Bock saßen. Ein Mann und eine Frau, die er aus Kansas City kannte.
Der Mann, der die Zügel hielt, war Anfang Dreißig, schlank, und hatte ein hageres, scharfes Gesicht, dessen bernsteinfarbene Augen konzentriert in die Runde blickten. Er wirkte wie ein Rasiermesser, dessen scharfe Klinge jeden Moment hervorspringen konnte. Für die Prärie war er unpassend gekleidet mit dem taubengrauen Dreiteiler, den Jacob ebenfalls schon aus Kansas City kannte. Von dieser Begegnung wußte er, daß in dem schwarzledernen Holster, das an der rechten Hüfte des Mannes unter der Jacke hervorlugte, ein vernickelter Revolver mit Perlmuttgriffschalen steckte.
Die in ein braunes Kostüm gekleidete Frau war mehr als zehn Jahre jünger als ihr Begleiter. Trotz ihrer Jugend wies sie alle Rundungen auf, mit der eine Frau das Begehren eines Mannes wecken konnte. Und das hatte die Frau mit dem feuerroten Haarschopf, der unter ihrem Hut hervorquoll, und dem hübschen Gesicht mit den hellgrünen Augen bei vielen Männern getan, nicht immer zu deren Bestem.
Wegen Urilla Anderson, die im Lightheart Palace, einem Saloon in Kansas City, gearbeitet hatte, waren Adam Zachary und der Sklavenjäger Everett Stanton aneinandergeraten, und Stanton hatte den jungen Auswanderer erstochen.
Jacob sah seinen Freund an, der sich in Urilla verliebt hatte. Martin stand starr da, mit unbewegtem Gesicht, aber der Blick seiner blauen Augen war auf die junge Frau fixiert.
Urilla mochte vielen Männern den Kopf verdrehen, aber sie war in festen Händen. Sie lebte mit ihrem Begleiter zusammen, dem Spieler Alan Clayton, der für seinen locker sitzenden Revolver und seine ebenso locker sitzenden Fäuste bekannt war.
Die beiden hier in der weiten, offenen Prärie wiederzutreffen, hätte Jacob niemals erwartet. Wie er an Martins Gesicht erkannte, ging es seinem Freund ebenso.
Clayton entbot den Auswanderern seinen Gruß und fragte ohne Umschweife, ob er sich dem Treck anschließen dürfte.
»Was veranlaßt sie dazu, Mr. Clayton?« fragte Abner Zachary, genauso verwundert wie alle anderen. »Sie scheinen mir nicht der Mann zu sein, der sich in Oregon mit seiner Hände Arbeit ein neues Heim schaffen will.«
»Ich arbeite auch mit meinen Händen«, erwiderte der Spieler. »Nur auf andere Art als Sie und Ihre Freunde.«
Der Prediger nickte. »Ich kenne die Art, wie Sie an das Geld anderer Leute kommen, Mr. Clayton. Aber ich kann nicht sagen, daß ich sie billige.«
»Ich will auch nicht mit Ihnen spielen, Mr. Zachary, sondern mich Ihrem Treck anschließen.« Ein leichtes Lächeln umspielte Claytons schmale Lippen. »Außerdem, haben Sie sich nicht auch dem Glücksspiel hingegeben, als sie Black Thunder ins Rennen schickten? Durch den unverhofften Sieg des Rappen habe ich eine Menge Dollars verloren.«
Clayton spielte auf das Pferderennen an, das Homer C. Asquith vor ein paar Tagen in Kansas City ausgerichtet hatte. George Kelley hatte auf Black Thunder den eindeutigen Favoriten Silver Dollar geschlagen und damit das Preisgeld von 5000 Dollar gewonnen. Die Summe kam den Auswanderern sehr zupaß, nachdem sie ihre Ersparnisse zusammengekratzt hatten, um Jackson Harris freizukaufen.
»Das war etwas anderes«, schnappte Abner Zachary verdrießlich. »Wir haben das Geld gebraucht.«
Wieder lächelte der Spieler.
»Ich brauche das Geld auch.«
»Aber wir haben niemanden betrogen.«
Das Lächeln erfror, und auf Claytons scharfen Zügen zeichneten sich Verärgerung und Wut ab. Seine Rechte ließ die Zügel los und wanderte unauffällig in die Richtung seines Revolvers.
»Was wollen Sie damit sagen, Mr. Zachary?« fragte er langsam, laut und deutlich, als wollte er alle Menschen zu Zeugen der ihm widerfahrenen Beleidigung machen.
Der Prediger sah ein, daß er einen Schritt zu weit gegangen war, und antwortete: »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Clayton. Ich kenne Ihre Art des Spiels nicht. Aber ich habe Vorbehalte gegen alle Menschen, die ihr Geld mit Würfeln und Karten verdienen.«