Nach dem zeremoniellen begann der ausgelassene, fröhliche Teil des Abends bei Musik, Tanz und einem Festschmaus, zu dem die Frauen alles aufgefahren hatten, was ihre bescheidenen Vorräte ihnen ermöglichten. Ein geschlachtetes Rind sorgte für saftige Steaks. Für Naschkatzen gab es Kuchen und Pfannkuchen mit allen nur erdenklichen Marmeladen. Seit dem Vorfall mit der Büffelherde und dem Tod Ben Millers hatte eine gedrückte Stimmung über dem Treck gelegen. Jetzt tanzten, lachten, aßen und tranken sich die Menschen ins Leben zurück.
Jacob tanzte mit Irene und zog sie plötzlich weg von der Feier, zu ihrem Wagen hin, um ihr etwas zu zeigen.
»Was ist es denn?« fragte Irene immer wieder, aber der junge Zimmermann schwieg eisern.
Irene wunderte sich noch mehr, als sie an ihrem Wagen vorbeigingen und den großen, schweren Prärieschoner der Kelleys ansteuerten.
»Was wollen wir hier?« wollte die junge Frau wissen.
»Etwas holen, das Sam für mich in seinem Wagen versteckt hat.«
»Versteckt? Weshalb?«
»Damit du es nicht siehst«, antwortete Jacob und kletterte in den Wagen. »Es ist nämlich ein Geschenk.«
»Ein Geschenk? - Für mich?«
»Für dich und für Jamie.«
Jacob kehrte zu Irenes großer Überraschung mit einem Kinderbett zurück.
»Wo. wo ist das her, Jacob?«
»Das Holz habe ich in Kansas City besorgt. Ich habe das Bett während der langen Nachtwachen zusammengebaut. Du kannst es in unserem Wagen so verankern, daß es während der Fahrt sanft hin und her schaukelt. Ich hoffe, dein Sohn kann gut darin schlafen.«
Irene wollte sich bei Jacob bedanken, aber ihr fehlten die Worte. Jamie hatte zum erstenmal in einem eigenen Bettchen geschlafen, als sie in Blue Springs gewesen waren und dort als Gäste im Haus der steinreichen Cordwainers wohnten. Irene hatte daran gedacht, daß ihr Sohn irgendwann einmal sein eigenes Bettchen haben würde. Und jetzt hatte er es - dank Jacob, der sich wie ein Vater um ihn kümmerte.
Hegte er für den Kleinen wirklich Vatergefühle? Und was fühlte er für Irene? Vielleicht dasselbe, was sie für ihn empfand?
Diese Fragen beschäftigten die junge Frau immer wieder. Und so sehr sie diese Gedanken und ihre Gefühle für Jacob auch zu unterdrücken versuchte, weil sie es Carl Dilger gegenüber als ungerecht empfand, sie drängten doch zurück an die Oberfläche. Es ließ sich nicht vermeiden, wenn man so lange Zeit auf so engem Raum miteinander verbrachte wie Irene und Jacob.
Irene überlegte noch, ob sie Jacob sagen sollte, was sie für ihn empfand, oder ob es besser war, alles so zu lassen, wie es war, als ein Schuß über das Lachen der Menschen und die Fiedelmusik peitschte und den ausgelassenen Lärm augenblicklich ersterben ließ.
Die Wagen von Jacobs Zug standen ganz in der Nähe des schmalen Durchlasses zum zweiten Tal, wo das Vieh die Nacht verbrachte. Jacob war sich ziemlich sicher, daß der Schuß von dort gekommen war.
»Geh in den Wagen und paß auf Jamie auf!« rief er Irene zu, zog den Sharps-Karabiner und seinen Waffengurt mit dem Army Colt aus seinem Wagen und rannte zwischen den felsigen, moosbewachsenen Wänden hindurch ins zweite Tal.
Andere Männer folgten ihm, einige bewaffnet, einige mit Fackeln ausgerüstet.
In dem kleineren Tal kämpften sie sich durch das Vieh hindurch und riefen nach den Wachen.
»Hierher«, hörten sie plötzlich Jackson Halls aufgeregte Stimme. »Kommt hierher!«
Das kam vom Osthang, wo sie schließlich auf die beiden Wächter stießen.
»Was ist los?« fragte Jacob, der als erster bei ihnen anlangte. »Wer hat geschossen?«
»Ich«, antwortete Jackson Harris. »Jemand hat sich bei den Pferden zu schaffen gemacht.« Er zeigte zu einer Gruppe quaderförmiger Felsen. »Da vorn, bei den Felsblöcken. Ich dachte an einen Wolf, einen Kojoten oder eine Raubkatze und schoß.«
»Und?« fragte sein Schwager Sam Kelley. »Hast du das Tier getroffen?«
»Ich denke schon, aber nicht tödlich. Er konnte fliehen.«
»Er?« meinte Jacob.
»Ich glaube, es war kein Tier. Erst sah es aus wie ein Tier, weil es am Boden kroch. Aber als ich geschossen hatte und es fortlief, ging es zwar in gebückter Haltung, aber doch so aufrecht, wie es nur ein Mensch vermag.«
»Ein Mensch?« dröhnte Abner Zachary. »Aber wer.«
»Ruhig!« rief Martin dazwischen und hielt den Zeigefinger vor den Mund. »Da draußen ist etwas!«
Sie lauschten gebannt und hörten es bald alle. Das Wiehern eines Pferdes und Hufgetrappel, beides sehr leise und rasch verschwindend, als es sich vom Lager entfernte.
»Das kam von jenseits dieses Hügels«, stellte Liam O'Rourke fest und zeigte nach Osten. »Vielleicht ist ein Pferd über den Hügel und hat sich davongemacht.«
»Ein Pferd, das aufrecht geht wie ein Mensch?« entgegnete Jackson Harris zweifelnd.
»Wer oder was immer es war, jedenfalls hat Jackson es erwischt«, sagte Martin, der mit einer Fackel den Boden bei den von Harris bezeichneten Felsen abgesucht hatte. »Hier sind frische Blutspuren. Sie führen den Hügel hinauf.«
Ein bewaffneter Trupp wurde zusammengestellt und suchte das Gelände jenseits der Hügel ab. Vergeblich. Von dem nächtlichen Besucher fehlte jede Spur.
Spekulationen machten im Lager die Runde, und bald sprach jedermann von wilden Indianern und einem bevorstehenden Überfall. Damit war die Feier zu Ende.
Den Rest der Nacht verbrachten die Auswanderer still und unter verstärkter Bewachung. Auch auf den Hügeln rings um das Lager wurden Wachtposten aufgestellt. Jacob gehörte zu ihnen.
Irene, die mit Jamie im Wagen lag, dachte darüber nach, ob der Schuß gerade zur richtigen Zeit gekommen war. Als ihr Blick auf das von Jacob gezimmerte und mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Kinderbett fiel, war sie sich dessen nicht sicher.
*
Die schlanke Gestalt huschte fast lautlos durch die Nacht und setzte alle viere ein, um möglichst rasch den Hügel zu erklimmen. Jedesmal, wenn der sehnige Mann seine linke Hand gebrauchte, um sich an einem Felsvorsprung, einem Moosbüschel oder einem Wurzelstrunk festzuhalten, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Körper.
Die von dem Wachtposten abgefeuerte Kugel hatte seinen Ellbogen getroffen. Zum Glück war es nur ein Streifschuß. Einen Zoll daneben, und sein Knochen wäre zerschmettert gewesen. Doch der Schmerz war auch so stark genug, seinem Arm einen Teil der natürlichen Kraft zu nehmen.
Der bronzehäutige Mann, der sich dicht am Boden hielt und fast mit den Schatten der Nacht verschmolz, biß die Zähne zusammen und kletterte weiter, der Hügelkuppe entgegen. Er hatte schon viel größere Schmerzen aushalten müssen und würde auch die in seinem Arm überwinden.
Viel mehr als die frische Wunde schmerzte ihn, daß sein Plan vereitelt worden war.
Tage- und nächtelang hatte er den Treck verfolgt, mit der Schlauheit eines Fuchses und der Geduld und Zähigkeit eines Wolfs. In dieser Nacht, in der die Auswanderer ihr großes Fest feierten, sah er seine Stunde für gekommen. Das Vieh war in einem von der Wagenburg abgetrennten Tal untergebracht und wurde von nur zwei Männern bewacht. Eine bessere Gelegenheit würde er kaum erhalten.
Also schlich er sich an, langsam, leise und vorsichtig, wie er es gelernt hatte. Und doch war er entdeckt worden. Er wußte nicht einmal, wodurch er sich verraten hatte. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, mußte außerordentlich scharfe Augen besitzen.
Unter ihm liefen die durch den Schuß alarmierten Auswanderer in den kleinen Canyon mit dem Vieh. Er hörte ihre erregten Rufe und sah die Fackeln in ihren Händen, die ihn an tanzende Irrlichter erinnerten.
Würden ihn die Männer jagen?
Er wußte nicht einmal, ob sie ihn erkannt hatten. Vielleicht, wenn er Glück hatte, hielten sie ihn für ein Raubtier, daß in dem Canyon leichte Beute zu finden gehofft hatte. Wenn das der Fall war, würden sie nicht übermäßig mißtrauisch sein, und er erhielt sicher eine zweite Chance, um seine Beute zu machen.