»Ob Sie's glauben oder nicht«, fuhr Pat fort, »Sie können genau drei Kilometer weit sehen. Ich weiß, dass man die Entfernung bis zum Horizont nur im Maßstab von Lichtjahren zu fassen meint, aber man könnte bequem in zwanzig Minuten zu Fuß dorthin kommen, wenn es möglich wäre, auf diesem Staub zu gehen.«
Er kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ die Motoren wieder anlaufen.
»Die nächsten sechzig Kilometer gibt es nicht allzu viel zu sehen«, rief er über die Schulter, »also machen wir ein bisschen Tempo.«
Die Selene schoss vorwärts. Zum ersten Mal spürte man die Geschwindigkeit. Die Kielspur des Bootes wurde länger und höher, als die rotierenden Schrauben sich in den Staub fraßen. In großen Sprühwolken stieg er zu beiden Seiten empor; von weitem hätte die Selene wie ein Schneepflug gewirkt, der sich unter einem kalten Mond durch die winterliche Landschaft arbeitet. Aber jene grauen, langsam in sich zusammenfallenden Massen waren kein Schnee, und das Licht über ihrer Bahn kam von der Erde.
Die Passagiere entspannten sich und genossen die glatte, fast lautlose Fahrt. Jeder hatte auf dem Flug zum Mond eine vielhundertfache Geschwindigkeit erlebt — aber im Weltraum wurde man sich dessen nicht bewusst. Dieses blitzschnelle Gleiten über den Staub war weitaus aufregender. Als Harris das Steuer einschlug und die Selene einen Kreis beschreiben ließ, überholte das Boot beinahe die fallenden Puderschleier, die seine Schrauben zum Himmel emporgeschleudert hatten. Es schien kaum fasslich, dass dieser überfeine Staub, unbehindert von jedem Luftwiderstand, in eleganten Bögen hochstieg und wieder hinabsank. Auf der Erde wäre er stunden-, ja vielleicht tagelang dahingetrieben worden.
Als das Boot wieder auf geradem Kurs lag und außer der leeren Ebene nichts zu sehen war, befassten sich die Passagiere mit den reichlich zur Verfügung gestellten Unterlagen. Jeder hatte einen Prospekt mit Fotografien, Landkarten und belehrendem Text erhalten. Außerdem eine Urkunde — »Hiermit wird bestätigt, dass Mr./Mrs./Miss … die Meere des Mondes auf dem Staubkreuzer Selene befahren hat.« Sie brauchten die Broschüre nur durchzulesen, um alles Wissenswerte über das Meer des Durstes zu erfahren, vielleicht auch noch ein bisschen mehr.
Fast der ganze Mond, so lasen sie, ist von einer dünnen Staubschicht bedeckt, die gewöhnlich nur ein paar Millimeter Tiefe aufweist. Zum Teil handelt es sich dabei um Sternschutt — um die Überreste von Meteoriten, die seit mindestens fünf Milliarden Jahren auf die ungeschützte Oberfläche des Mondes gefallen waren. Zum anderen Teil war er von den Felsgebirgen des Mondes abgebröckelt, weil sie sich durch die extremen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht zusammenzogen und wieder ausdehnten. Woher der Staub aber auch immer stammen mochte, er war so fein, dass er wie eine Flüssigkeit dahinströmte, selbst bei dieser geringen Schwerkraft.
In Äonen war er von den Gebirgen in die Ebenen hinabgesunken, hatte Teiche und Seen gebildet. Die ersten Astronauten waren darauf vorbereitet gewesen. Aber das Meer des Durstes war eine Überraschung; niemand hatte geglaubt, einen Staubozean mit einem Durchmesser von über hundert Kilometern zu finden.
Im Vergleich zu den »Meeren« des Mondes war es sehr klein, ja die Astronauten hatten eine Bezeichnung nie offiziell akzeptiert, sondern stets darauf hingewiesen, dass es sich nur um einen kleinen Teil des Sinus Roris — der Taubucht — handelte. Und wie konnte der Teil einer Bucht ein ganzes Meer sein? Aber der von einem Werbefachmann erfundene Name hatte sich gehalten. Er war mindestens ebenso passend wie die Namen der anderen sogenannten Meere — Meer der Wolken, Regenmeer, Meer der Ruhe. Gar nicht zu reden vom Nektarmeer …
Die Broschüre enthielt auch beruhigende Informationen, um die Befürchtungen auch der nervösesten Reisenden zu zerstreuen und den Beweis zu liefern, dass die Touristenbehörde an alles gedacht hatte.
»Für Ihre Sicherheit sind alle möglichen Vorkehrungen getroffen worden«, hieß es da. »Die Selene führt eine Sauerstoffreserve für über eine Woche mit sich, alle lebenswichtigen Apparaturen sind in zweifacher Ausfertigung vorhanden. Ein automatisches Funksignal meldet in regelmäßigen Abständen die genaue Position, und bei einem allerdings höchst unwahrscheinlichen totalen Stromausfall würden sie ohne Verzögerung von einem Staubschlitten nach Port Roris zurückgeschleppt werden. Überdies braucht man sich wegen der Witterung keine Sorgen zu machen. Auf dem Mond gibt es keine Seekrankheit. Stürme auf dem Meer des Durstes gibt es nicht.«
Während die Selene durch die von der Erde erleuchtete Nacht raste, ging man auf dem Mond seinen Geschäften nach. In den letzten fünfzig Jahren hatte sich hier mehr ereignet als in den fünf Milliarden Jahren zuvor, und manches sollte noch folgen.
In der ersten Stadt, die der Mensch je außerhalb seines Heimatplaneten erbaut hatte, ging Chefverwalter Olsen durch den Park spazieren. Wie die anderen fünfundzwanzigtausend Einwohner von Port Clavius war er sehr stolz auf diesen Park. Er war natürlich klein — wenn auch nicht so winzig, wie jener hämische Nachrichtensprecher mit der Bezeichnung »größenwahnsinniger Blumenkasten« angedeutet hatte. Jedenfalls gab es auf der Erde keinen Garten mit zehn Meter hohen Sonnenblumen.
Hoch oben zogen kleine Zirruswolken vorbei — so schien es jedenfalls. Es handelte sich natürlich nur um Bilder, die auf die Innenseite der Kuppel projiziert wurden, aber die Illusion war so perfekt, dass der C. V. manchmal Heimweh bekam. Heimweh? Er korrigierte sich; er war hier zu Hause.
Aber in seinem Innersten wusste er, dass das nicht stimmte. Es galt vielleicht für seine Kinder, aber nicht für ihn. Er war in Stockholm auf der Erde geboren; sie hatten in Port Clavius das Licht der Welt erblickt. Sie waren Bürger des Mondes; er gehörte zur Erde.
Knapp einen Kilometer entfernt, gerade außerhalb der Hauptkuppel, prüfte der Leiter der Touristenbehörde die letzten Ergebnisse. Man hatte gegenüber dem Vorjahr wieder einen Aufschwung zu verzeichnen. Es gab zwar auf dem Mond keine Jahreszeiten, aber man konnte doch nicht übersehen, dass mehr Touristen heraufkamen, wenn sich in der nördlichen Hemisphäre der Erde der Winter meldete.
Wie konnte er dieses Ergebnis halten? Das war eben immer das Problem, denn Touristen verlangten nach Abwechslung, und man konnte ihnen nicht immer wieder dasselbe anbieten. Die neuartige Landschaft, die niedrige Schwerkraft, der Anblick der Erde, die Geheimnisse der Rückseite, der herrliche Sternenhimmel, die Siedlungen — was hatte der Mond sonst schon zu bieten? Wie bedauerlich, dass es keine Mondureinwohner mit seltsamen Gebräuchen und noch wunderlicherem Aussehen für die Fotografierwut der Besucher gab. Aber leider benötigte man zur Besichtigung des größten Lebewesens, das je auf dem Mond gefunden worden war, ein Mikroskop — und selbst dessen Ahnen waren mit einer der ersten Mondraketen hier heraufgekommen.
Direktor Davis überdachte kurz die letzten Berichte, die per Telefax heraufgekommen waren; vielleicht half ihm hier etwas weiter. Natürlich wieder einmal die übliche Bitte einer der vielen Fernsehgesellschaften, einen Dokumentarbericht über den Mond zu drehen — falls alle Auslagen erstattet wurden. Das musste er natürlich ablehnen. Wenn er alle diese freundlichen Angebote akzeptierte, hatte seine Abteilung bald ein Defizit aufzuweisen.
Und dann ein Brief seines Kollegen bei der Touristenbehörde von New Orleans, der einen Personalaustausch vorschlug. Daraus schienen sich weder Vorteile für den Mond noch für New Orleans zu ergeben, aber immerhin, es kostete nichts und würde wenigstens eine gute Presse machen. Und schließlich — schon interessanter — die Anfrage des Wasserschimeisters von Australien, ob irgendjemand schon versucht habe, auf dem Meer des Durstes Ski zu laufen. Ja — das war einmal ein guter Einfall; merkwürdig, dass man jetzt erst darauf kam. Aber vielleicht war es bereits ausprobiert worden, mit Hilfe der Selene oder einem der kleinen Staubschlitten. Ein Versuch konnte ja nicht schaden. Davis war stets darauf bedacht, neue Vergnügungen zu finden, und das Meer des Durstes gehörte zu seinen Lieblingsprojekten.