Aber das stimmte gar nicht. Maurice Spenser lief Gefahr, sich die Magengeschwüre zu erwerben, die er bisher vermieden hatte. Er war unter beträchtlichen Kosten in das Gebirge der Unzugänglichkeit geflogen — aber jetzt schien es, als sei das alles umsonst gewesen.
Bevor noch die Schlitten auftauchen würden, konnte alles vorbei sein. Die spannende, atemberaubende Rettungsaktion, die Milliarden Menschen an die Bildschirme gefesselt hätte, würde nie stattfinden. Nur wenige Menschen hätten es fertiggebracht, die Errettung von zweiundzwanzig Männern und Frauen vor dem Tode nicht zu beobachten, aber niemand würde einer Exhumierung beiwohnen wollen.
Das war Spensers kaltblütige Analyse der Situation vom Standpunkt des Reporters aus, aber auch als Mensch fühlte er sich nicht wohl. Es war furchtbar, nur fünf Kilometer vom Ort der Tragödie entfernt auf einem Berg zu sitzen und nichts, aber auch gar nichts tun zu können. Er schämte sich fast jeden Atemzugs, wenn er daran dachte, dass die Eingeschlossenen langsam ersticken mussten.
Er hatte häufig über Katastrophenfälle berichtet, aber diesmal kam er sich wie ein Leichenfledderer vor.
An Bord der Selene war es jetzt sehr friedlich — so friedlich, dass man gegen den Schlaf kämpfen musste. Wie angenehm wäre es jetzt, dachte Pat, wenn er sich den anderen anschließen könnte, die glücklich vor sich hinträumten. Er beneidete sie — ja, er war manchmal sogar eifersüchtig auf sie. Dann atmete er wieder in tiefen Zügen den rasch dahinschwindenden Sauerstoff ein, und sein bereits umnebeltes Gehirn erkannte wieder die drohende Gefahr.
Ein einzelner Mann hätte nie wach bleiben oder sich um die zwanzig bewusstlosen Männer und Frauen kümmern und ihnen Sauerstoff zuführen können, sobald sich Atembeschwerden zeigten. Er und McKenzie hatten einander bewacht. Mehrmals musste einer den anderen vor dem Einschlafen bewahren. Das Ganze hätte keine Schwierigkeiten gemacht, wenn die Sauerstoffreserve groß genug gewesen wäre, aber die eine Flasche leerte sich zusehends. Es war zermürbend, wenn man daran dachte, wie viel Kilogramm flüssigen Sauerstoffs sich in den Tanks der Selene noch befanden, aber es gab keine Möglichkeit, an das kostbare Gas heranzukommen. Das automatische System förderte es durch die Verdunster in die Kabine, wo es sofort vergiftet wurde.
Pat hatte nie gewusst, dass die Zeit so langsam vergehen konnte. Es schien fast unglaublich, dass erst vier Stunden vergangen waren, seit er und McKenzie über die schlafenden Passagiere zu wachen begonnen hatten. Er hätte schwören können, dass sie sich seit Tagen miteinander unterhielten, jede Viertelstunde einmal mit Port Roris sprachen, den Pulsschlag und die Atmung der anderen überprüften und mit den Sauerstoffrationen geizten.
Aber nichts dauert ewig. Über das Funkgerät, aus der Welt, von der keiner der beiden glaubte, dass er sie je wiedersehen würde, kam die erwartete Nachricht.
»Wir sind unterwegs«, sagte die müde, aber entschlossene Stimme Lawrence'. »Ihr braucht nur noch eine Stunde auszuhalten — dann sind wir genau über der Selene. Wie fühlt ihr euch?«
»Sehr müde«, sagte Pat langsam. »Aber wir schaffen es.«
»Und die Passagiere?« — »Genau dasselbe.«
»Gut — ich melde mich alle zehn Minuten. Stellen Sie Ihren Empfänger auf größte Lautstärke. Die Ärzte hier haben das vorgeschlagen. Sie wollen verhindern, dass ihr beide auch noch einschlaft.«
Ein großes Blasorchester schmetterte seine Weisen über den Mond, hinaushallend über die Erde, zu den fernen Gegenden des Sonnensystems. Hector Berlioz hätte es sich nie träumen lassen, dass sein Rákóczi-Marsch einmal Menschen Hoffnung und Stärkung bedeuten würde, die auf einer anderen Welt um ihr Leben kämpften.
Als die Musik durch die Kabine dröhnte, lächelte Pat Dr. McKenzie schwach an.
»Es mag zwar altmodisch sein«, sagte er, »aber es wirkt.«
Das Blut pochte in seinen Schläfen, die Füße zuckten im Rhythmus der Musik. Auf dem Mondhimmel durch den Weltraum kam der Gleichschritt marschierender Armeen, das Donnern von Hufen über den Schlachtfeldern, das Schmettern der Trompeten.
Während sich seine Lungen in der stickigen Luft abmühten, versuchte Pat sich an dieser Musik wie an einem Rettungsring festzuhalten.
Auf dem winzigen, über und über bepackten Deck des Staubschlittens Eins hörte Chefingenieur Lawrence ebenfalls diese Musik, und er reagierte ähnlich. Seine kleine Flotte zog tatsächlich in den Kampf, gegen den Feind, mit dem der Mensch bis zum Ende der Zeiten zu kämpfen haben würde. Die Naturkräfte formierten sich stets neu, und der Tod hatte viele Gesichter.
Staubschlitten Eins und Zwei zogen je einen Lastschlitten hinter sich her, vollbeladen mit Apparaten und Geräten, vor allem aber mit den leeren Tonnen, auf denen das Floß schwimmen sollte. Alles nicht unbedingt Lebenswichtige hatte man zurückgelassen. Lawrence wollte nach dem Abladen Schlitten Eins sofort wieder nach Port Roris zurückschicken. Dann konnte er einen Pendelverkehr zwischen dem Stützpunkt und der Untergangsstelle einrichten und brauchte nie länger als eine Stunde auf wirklich wichtige Gegenstände zu warten.
Als die Gebäude von Port Roris schnell hinter dem Horizont versanken, ging Lawrence mit seinen Leuten den Plan noch einmal durch.
»Jones, Sikorsky, Coleman, Matsui — wenn wir an der Markierung angekommen sind, werden die Tonnen abgeladen und in der vorgesehenen Weise ausgerichtet. Bruce und Hodges bringen dann die Querverbindungen an. Alle Werkzeuge müsst ihr festbinden. Passt auf, dass möglichst wenige Bolzen und Muttern verlorengehen. Bitte keine Panik, wenn jemand in den Staub fällt. Ihr könnt nur ein paar Zentimeter sinken. Ich weiß Bescheid.
Sikorsky, Jones — ihr helft bei der Errichtung des Bodenbelags mit, sobald das Floßgerüst fertig ist. Coleman, Matsui — wenn ihr einigermaßen Platz zum Arbeiten habt, werden die Rohre und Zuleitungen hergerichtet. Greenwood, Renaldi — Sie kümmern sich um die Bohrungen …«
Und so weiter, Punkt für Punkt. Die größte Gefahr war, wie Lawrence wusste, dass seine Leute einander im Weg standen, wenn sie auf diesem engen Raum zusammenarbeiten mussten. Ein kleiner, scheinbar harmloser Unfall, und alle Mühe war umsonst gewesen. Und dann der Albtraum: dass die zweiundzwanzig Männer und Frauen in der Selene Minuten vor der Rettung sterben mussten, weil der einzige Schraubenschlüssel, mit dem die endgültige Verbindung hergestellt werden konnte, in Port Roris zurückgelassen worden oder über Bord gefallen war …
Maurice Spenser starrte durch das Fernglas und lauschte den Funkstimmen, die über dem Meer des Durstes hin- und herwanderten. Alle zehn Minuten rief Lawrence die Selene, und jedes Mal dauerte es länger, bis die Antwort kam. Aber Harris und McKenzie boten ihre ganze Willenskraft auf, um bei Bewusstsein zu bleiben.
»Was setzt ihnen denn dieser Schallplattenpsychologe jetzt vor?«, fragte Spenser. Der Funker der Auriga brachte sein Gerät auf größere Lautstärke — und die Walküren ritten über das Gebirge der Unzugänglichkeit.
»Ich glaube nicht, dass sie bei ihrer Musikauswahl bisher über das neunzehnte Jahrhundert hinausgegangen sind«, murmelte Captain Anson.
»O doch«, korrigierte ihn Jules Braque, der an seiner Fernsehkamera hantierte. »Vor ein paar Minuten spielten sie Khatchaturians Säbeltanz. Der ist immerhin erst hundert Jahre alt.«
»Jetzt müsste sich Schlitten Eins wieder melden«, meinte der Funker. In der Kabine wurde es sofort still.
Genau auf die Sekunde kam das Signal des Staubschlittens. Die Expedition war jetzt so nah, dass die Auriga alle Signale direkt, also ohne den Umweg über Lagrange II, empfangen konnte.
»Hier Lawrence. Hallo Selene. Wir sind in zehn Minuten über euch. Wie steht es?«
Wieder diese furchtbare Pause. Diesmal beinahe fünf Sekunden lang. Dann –