Früher erledigte I-kucheng jede Maus, die es wagte, ihn offen anzugreifen, mittels einer besonderen Kampfsportart namens Ikto. In seinen späteren Nächten wurde er jedoch schwerhörig und bemerkte nicht, wenn sich ein Angreifer von hinten anpirschte. Skrang war mit ihren dreihundertsiebzig Nächten noch relativ jung und hatte sich selbst zu seiner heimlichen Beschützerin ernannt. I-kucheng ruhte sich im Augenblick sicher und bequem im Rajang-Loch aus. Skrang nutzte diese Pause, um sich ein wenig die Füße zu vertreten.
Als sie zur Ecke der hoch über ihr aufragenden Garderobe kam, warf sie einen prüfenden Blick durch den Raum. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, das Schlafzimmer lag im Halbdunkel. Der Nacktling, der diesen Raum bewohnte, war eine alte Frau, die erst spät aufstand. Sie schlief noch tief und fest in ihrem Bett. Zu ihren Füßen hatte sich ein großer, alter Kater mit streitsüchtigem Gesichtsausdruck zusammengerollt. Skrang war nicht größer als eine seiner Pfoten.
Dieser rötlichgelbe Kater wurde von den Mäusen Spuck genannt, weil er die Gewohnheit besaß, alles zu bespucken, was sich in seiner Nähe rührte. Normalerweise durchstreifte Spuck mit Vorliebe bei Nacht den Garten, doch manchmal blieb er im Zimmer, um die Mäuse zu verwirren. Obwohl nicht halb so gefährlich wie Augapfel, die blaue Burmakatze, stellte er auch im Alter noch einen nicht zu unterschätzenden Gegner dar. Als Maus tat man gut daran, Spuck nicht den Rücken zu kehren.
Aufmerksam lauschte Skrang dem regelmäßigen Atem von Katze und Nacktling. Als sie die Gewißheit hatte, daß beide fest schliefen, sprang sie auf die Fußleiste und rannte die Wände entlang bis zur offenen Tür. Sie schoß auf den Treppenabsatz hinaus und war zunächst einmal in Sicherheit.
Bei ihrem Weg über das polierte Holz mußte sie an einer offenen Tür vorbei, die zum fünften Schlafzimmer des Hauses und damit zum Sitz des gefürchteten Kopfjägers gehörte. Ihr Herz schlug schneller, obwohl Totenköpfe angeblich keine Furcht kennen. Sie kroch zur Türkante und blieb in deren Schatten hocken. Kurz darauf ertönte die Stimme des Kleinen Prinzen. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie den schrecklichen spöttischen Tönen lauschte.
»Ich kann dich riechen, süße Maus, köstliches Mäuschen, du schmutzige, gemeine kleine Maus. Ich weiß genau, daß du da bist.«
Die Stimme klang honigsüß und überaus selbstzufrieden.
»Denkst du etwa, du kannst den Kleinen Prinzen zum Narren halten? Nicht lange, du dreckige kleine Hausmaus mit deinem wohlschmeckenden, appetitlichen Fleisch. Der Kleine Prinz kann eine ungezogene Hausmaus zwei Zimmer weit riechen. Schmutziges Hausmäuschen, ich kann dich jetzt riechen. Ich wette, du hast süße, knusprige Ohren.«
Gelbhals, nicht Hausmaus, du elender Kannibale, dachte Skrang. Wenn sich ein Nacktling im Raum befand, würde er das Geplapper des Kleinen Prinzen nicht verstehen. Sie nahm allen Mut zusammen und schoß an der Tür vorbei. Mit einem Blick nahm sie die weiße Maus mit den rosageränderten Augen, den rosigen Lippen und dem rosafarbenen Schwanz wahr, die sie aus ihrem silbernen Käfig eindringlich anstarrte.
»Ha!« rief der Kleine Prinz und preßte seinen weichen, fetten Körper an die Gitterstäbe. »Ich wußte es! Ich wußte es! Du kannst den Kleinen Prinzen nicht zum Narren halten. Dein Fleisch wird mich nähren. Ich fresse die üppigen Lebern mausiger Mäuschen, nachdem mein Herr sie bei lebendigem Leibe gekocht hat. Deine Augäpfel werden zwischen meinen Zähnen zerplatzen. Mausimaus, ich liebe den Geschmack deiner köstlich-süßen Zunge. Komm zu mir. Komm zum Kleinen Prinzen .«
Skrang war dankbar, als die Stimme allmählich in der Ferne verklang. Schließlich hatte sie die Stufen nach unten erreicht.
Alle Mäuse im Haus hatten ihre besondere Eigenart, was das Hinauf- und Hinabsteigen der Treppen anging. Manche rutschten das Geländer hinunter, andere bevorzugten die Haltestange darunter, und manche benutzten die Zierleiste an der Tapete, so auch Skrang. Sie kletterte an der Samttapete hoch und rannte über die Zierleiste bis ins Erdgeschoß.
Unten angekommen blieb sie vor der Haustür stehen. Ihr fiel ein, daß sie Stone seit vielen Stunden nicht mehr aufgesucht hatte. Stone, ein alter Haselmäuserich, bewohnte ein hölzernes Klohäuschen am Ende des Gartens. Da diese Toilette nur in Notfällen benutzt wurde, hatte Stone meistens seine Ruhe. Der Garten um ihn herum wucherte üppig, was seiner Leidenschaft für die wild wachsende Natur entgegenkam. Er haßte die Art und Weise, auf die manche Nacktlinge die Pflanzen beschnitten, zurechtstutzten und verformten.
Stone wünschte sich, daß alle Mäuse aus diesem und allen anderen Häusern wieder in ihren natürlichen Lebensraum zurückkehrten: Felder, Wiesen, Gräben und Hecken. Alle Mäuse wüßten schließlich, so seine Worte, daß Häuser einmal die Wohnstätten vorgeschichtlicher, inzwischen ausgestorbener Riesenschnecken gewesen seien. Die Mäuse hätten sie allmählich bevölkert, gemeinsam mit Ratten, Fledermäusen und anderen Lebewesen. Vor kurzem waren natürlich noch die Nacktlinge hinzugestoßen - doch sie waren nur Eindringlinge in einem fremden Heim.
»Mäuse wurden geschaffen, um draußen zu leben, im Gras, zwischen Kerbelbüschen, im Unterholz. Sie sollen frisches Wasser aus den Blüten des Aronstabs trinken, Holzäpfel fressen und in Heunestern schlafen.«
Bei diesem Thema entwickelte Stone eine ungeahnte Leidenschaft.
Während Skrang noch überlegte, ob sie nach draußen laufen und Stone rufen sollte, schlug die Uhr in der Halle sieben und riß sie aus ihren Gedanken. Die Entscheidung war gefallen. Die Nacht wich allmählich dem Tag.
Ihr Instinkt, ein kaum merkliches Jucken am Schwanzansatz, befahl ihr, sich umzudrehen und die Treppe hochzuschauen. Spuck war im Begriff, lautlos die Stufen herunterzuschleichen, und starrte sie mit halbgeschlossenen Augen an; sein Blick glitzerte wie poliertes Glas. Sein Gang wirkte entschlossen. Das Gesicht war ausdruckslos wie eine Ziegelmauer.
Er spürte, daß man ihn entdeckt hatte, und sprang die letzten Stufen in einem Satz herunter.
Skrang war schnell verschwunden, bei weitem zu schnell für den alten Kater. Sie schoß den Flur entlang und ins Wohnzimmer. Unterdessen verfluchte sie ihr Pech. Schließlich lag der eigentliche Fluchtweg zum Gwenllian-Loch genau entgegenge-setzt, noch hinter der Treppe. Doch dort wäre sie Spuck genau in die Arme gelaufen.
Skrang hetzte in den Schatten der Treppe und stieß dort beinahe mit drei anderen Mäusen zusammen. Kurz darauf tauchte Spuck auf und warf wilde Blicke in alle Richtungen. Weder sein Geruchssinn noch seine Augen waren allzu gut. Er spuckte und zischte vor Wut, krampfhaft bemüht, seine Beute aufzuspüren.
Bis Skrang aufgetaucht war, hatte Furz dem hysterischen Fusel, der den Keller noch nie verlassen hatte, geduldig erklärt, daß sie lediglich zum Gwenllian-Loch am anderen Ende der Halle laufen mußten. Leider wurde der einzige Fluchtweg nun von einem ungeheuren Kater blockiert, der scheinbar darauf aus war, wenigstens eine Maus zu erwischen.
»O Mann«, flüsterte Fusel, »Mannomannomann ...«
»Klappe«, zischte Skrang.
Spuck lief auf und ab, spähte in jede Ecke und Nische, während sein Speichel wie Fett in der Pfanne in alle Richtungen spritzte. Anscheinend würde er nicht verschwinden, bevor er nicht auch den letzten Winkel durchstöbert hatte. Er wußte, irgendwo in der Nähe hielt sich eine Maus auf, und er wollte sie um jeden Preis finden.