Trödler dachte kurz darüber nach. »Kann ich auch allein bleiben, so wie du?«
»Ich bin nicht allein. Ich gehöre zu den Totenköpfen, einer halbreligiösen Sekte. Wir haben keine Zeit für Erklärungen, aber eins sage ich dir: Als einzelne Maus wirst du nicht lange überleben. Du brauchst einfach den Schutz eines Stammes. Das einzige Problem bei den Buchfressern ist, daß sie so selten Käse bekommen.«
Trödler zuckte die Achseln und seufzte. »Ich weiß nicht viel über Käse. In der Hecke kursierten wohl einige Mythen darüber, aber ansonsten ... Na ja, die Buchfresser scheinen mir auch nicht schlechter als die anderen zu sein. Kannst du in meinem Namen mit ihnen reden?«
»Ich habe eine noch bessere Idee. Ich bringe dich zu ihnen«, erwiderte die spirituelle Kriegerin. »Du brauchst dich nicht zu bedanken. Schließlich wurde ich dazu ausgebildet, anderen Mäusen Hilfe zu leisten. Wie bist du eigentlich ins Haus gelangt? Hast du die Torwächterin bezahlt?«
»Ich bin ohne Futter durch das Labyrinth gekommen und mußte gegen Tunnelgräberin kämpfen.«
»Und du hast gewonnen?« fragte Skrang erstaunt.
»Wir kämpften bis zum Unentschieden.«
»Jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt«, erklärte der Totenkopf. »Komm mit.«
Skrang lief vor Trödler durch die Halle bis zu einem Astloch in den Dielenbrettern. Sie glitt durch das Loch, das zur Hälfte von einem dicken Teppich verborgen wurde, und bedeutete Trödler, ihr zu folgen. Dort unten zwischen Kellerdecke und Fußboden erklärte Skrang, was es mit dem Loch auf sich hatte.
»Dieses Astloch ist das Gwenllian-Loch. Es trägt den Namen einer Priesterin des Buchfresser-Stamms. Im ganzen Haus hat man die Löcher nach toten Mäusen benannt. Manche von ihnen sind geheim, andere der Öffentlichkeit zugänglich. Von allen Räumen führt ein einziger Gang ins Labyrinth, nur für Notfälle. Auch das Gwenllian-Loch ist allgemein zugänglich. Von hier aus kommen wir in die Bibliothek.«
»Und was ist die Bibliothek?«
»Ein Ort voller Bücher, in dem der Buchfresser-Stamm sei-nen Sitz hat.«
»Ich weiß zwar nicht, was Bücher sind, aber das werde ich wohl bald herausfinden. Wie steht's mit dem Stamm der Wilden. Ist er in der Nähe?«
»Jedenfalls nicht allzu weit entfernt. Sie leben in der Küche und herrschen über die göttliche Speisekammer, die niemals leer wird.«
»Warum sind sie so gefürchtet?«
»Weil es fette, starke Krieger sind. Müssen sie auch sein, um ihren großen Reichtum zu bewachen. Und da ihnen die überquellende Speisekammer gehört, haben sie immer genug zu fressen, um fett und stark zu bleiben. Ein Hund, der sich in den Schwanz beißt.« Plötzlich wurde Skrangs Stimme leise. »Einen Augenblick .«
Sie blieb vor einem Bündel elektrischer Leitungen stehen, das an einem Balken entlanglief. Trödler verhielt sich mucksmäuschenstill und schaute Skrang fragend an. Bald wußte er, warum sie so plötzlich angehalten hatte. Vor ihnen glitt eine dunkle Gestalt durch einen schmalen Gang zwischen Fußbodenbrettern, der ihren eigenen Weg kreuzte. Das Wesen war viel größer als die beiden Mäuse. Trödler überlief ein Schauder. Dann verschwand die Gestalt zwischen den staubigen Brettern im Dschungel der Balken.
Trödler wagte wieder zu atmen und fragte: »Was war das?«
»Kellog«, antwortete Skrang und setzte sich wieder in Bewegung.
»Tut mir leid, daß ich so unwissend bin, aber wer bitte ist Kellog?« Je länger er im Haus blieb, desto mehr finstere Geheimnisse entstiegen dessen Tiefen.
»Entschuldigung, du bist ja neu hier. Kellog ist eine Dachratte.
Vermutlich unterwegs, um ihren Tribut vom Stamm der Wilden einzufordern. Keiner außer ihnen ist reich genug, Kellog zu bezahlen. Er hat sein Nest auf dem Dachboden. Die Un-sichtbaren - also die Waldmäuse, die auch auf dem Dachboden leben - haben oft Probleme mit ihm. In der Bibliothek wirst du nicht viel von ihm mitbekommen, denn er geht nie in die Zimmer, sondern hält sich immer zwischen Wänden und Fußböden auf, damit ihn die Nacktlinge nicht entdecken.«
»Ich habe noch nie von einer Dachratte gehört«, meinte Trödler und eilte hinter seiner Gefährtin her. »Wir hatten draußen in den Gräben gewöhnliche Ratten und Nutrias, aber keine Dachratten.«
»Man nennt sie Schiffsratten; manchmal bezeichnen sie sich auch selbst mit diesem Namen.«
»Was ist ein Schiff?«
»Keine Ahnung. Du stellst wirklich viele Fragen, Landmaus. Ich weiß auch nicht auf alles eine Antwort. Soviel ich gehört habe, ist ein Schiff so eine Art Reisekiste für Nacktlinge, aber sie fährt auf dem Wasser. Frage mich nicht, wieso; ich weiß es nicht. So, hier ist der Eingang zur Bibliothek. Ich werde dich dem Anführer der Buchfresser vorstellen und dann verschwinden. Mein Freund I-kucheng wacht bald auf, dann möchte ich in seiner Nähe sein. Wenn er allein herumwandert, finde ich ihn niemals wieder.«
»Klingt, als sei er ein bißchen senil«, bemerkte Trödler.
Skrang hielt inne und sagte in scharfem Ton: »Er ist ein feiner alter Mäuserich und weiß mehr als du und ich und ein Dutzend Mäuse zusammen. Mit seinem Kopf ist alles in Ordnung, glaube mir. Augen und Gehör haben nachgelassen, nicht aber sein Verstand.«
»Entschuldigung. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ist mir so herausgerutscht.«
Sie erreichten eine senkrecht in die Höhe steigende Wand, über die sich Stützen und Verstrebungen zogen, die die Mäuse als Kletterhilfen benutzten. Skrang steuerte sie durch den Dschungel aus Balken, Klammern und Trägern, bis sie an ein Ausgangsloch kamen.
Skrang blieb stehen. »Hallo!«
»Wer da?« antwortete eine Stimme. »Name und Anliegen?«
»Das ist die Wache«, flüstere Skrang an Trödler gewandt und rief zurück: »Hier ist Skrang, der Totenkopf. Ich habe Besuch für Frych die Gefleckte mitgebracht.«
»Wen hast du mitgebracht? Wie viele sind es?«
»Nur einer. Ein Gelbhals namens Trödler. Kommt von draußen.«
Der Wächter stieß ein Brummen aus. »Ihr solltet besser hereinkommen.«
Erst jetzt schlüpfte Skrang durch das Loch, gefolgt von Trödler.
Dies war nun wirklich eine seltsame Gegend. Er blickte von einigen viereckigen Gegenständen hinunter in einen eichegetäfelten Raum. Dort stand ein verstaubter Nußbaumschreibtisch. Davor hockte ein großes Lebewesen mit faltiger Haut, aus dessen Kopfhaut und Gesicht weiße Haare sprossen. Es schien völlig in einen der viereckigen Gegenstände vertieft zu sein. Trödler zweifelte nicht daran, daß er einen Nacktling vor sich hatte. Er war alles andere als beeindruckt, eher ein wenig enttäuscht. Der Nacktling sah wie ein großes, dummes Tier aus. Einige Mäuse spielten keine drei Körperlängen von ihm entfernt auf dem Boden, und er hatte sie noch nicht einmal bemerkt.
»Ich habe sie mir größer vorgestellt«, flüsterte Trödler.
»Wen?« fragte der Wächter, ein Hausmäuserich, der den Neuankömmling verächtlich anblickte.
»Die Nacktlinge.«
Skrang erklärte ihm die Lage. »Das kommt daher, daß er im Augenblick zusammengeklappt ist. Sie setzen sich hin, indem sie sich an zwei Stellen falten: an den Beinen und in der Mitte. Wenn sie aufstehen, sind sie doppelt so groß.«
»Ach so«, erwiderte Trödler zweifelnd. »Na ja, trotzdem habe ich sie mir beeindruckender vorgestellt.«
»Tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllen kann«, erwiderte der Wächter ein wenig beleidigt. »Tatsache ist, die Nacktlinge können ganz schön aggressiv werden, wenn ihnen danach ist. Ich nehme an, das hier ist dein erster.«
»Im Prinzip ja«, sagte Trödler und konnte seinen Blick einfach nicht von dieser doppelt gefalteten Kreatur mit der verschrumpelten Haut abwenden. »Das ist der erste, den ich sehe, obwohl ich schon welche gehört habe und vor kurzem einem von ihnen durch die Beine gelaufen bin. Mir war allerdings nicht nach Hinschauen zumute. Der hier sieht am Kopf und an den Pfoten ein bißchen blaß aus, was? Ich meine, so, als wäre er schon tot.«