Gorm starrte Ketil weiter tief in die Augen, so daß sich der arme Hauptmann vor Angst kaum auf den Beinen halten konnte. Schließlich sagte der alte Stammesführer: »Du kannst von Glück sagen, daß jemand für dich eingetreten ist. Die Strafe ist hiermit verhängt. Thorkils, du wirst die Zeit mit den Schlägen der Standuhr in der Halle messen. Zwei Stunden lang kein Futter und sieben - nein, acht Stunden Verlust aller Privilegien«, donnerte er mit der ganzen Autorität seiner Persönlichkeit.
Ketil schluckte. »Danke. Ich werde dafür sorgen, daß die Wachen angemessen bestraft werden.«
»Beiß ihnen die Schnurrbarthaare ab«, grollte Gorm. Ein Kräuseln der Unterlippe verriet jedoch, daß dieser abscheuliche Ratschlag nicht ganz ernst gemeint war. Dann wandte sich der große Anführer seinen Doppelgängern zu. Er zeigte Hakon und Tostig eine blutige Bißwunde am rechten Vorderbein, die er in der Schlacht davongetragen hatte.
Die beiden wirkten wenig erfreut. Trotzdem untersuchten sie sorgfältig die Wunde und ihren Verlauf.
»Wie sollen wir es machen?« fragte Gorm, der ihre Gefühle kannte.
»Wir machen es gegenseitig«, erwiderte Tostig gottergeben.
»Hauptsache, die Narben sehen aus wie diese. Wenn ich euch das nächste Mal sehe, möchte ich wieder in einen Spiegel schauen.«
Das unglückliche Paar nickte. So war es nach jeder Schlacht. Hakon und Tostig bemühten sich, Gorm davon zu überzeugen, daß sein Platz hinter den Truppen sei. Er solle von sicherer Stelle aus seine Soldaten dirigieren. »Du bist zu wertvoll, als daß du dein Leben in vorderster Front aufs Spiel setzen solltest«, erklärten sie hoffnungsvoll.
Leider waren die Anführer des Stamms der Wilden seit alters übellaunige Kerle, die gerne kämpften und sich das Töten und Verstümmeln nicht entgehen ließen. Schließlich waren sie deshalb überhaupt erst Anführer geworden. Daher stießen Hakons und Tostigs Schmeicheleien bei Gorm auf taube Ohren.
Die Mäuse erhoben sich. Anführer und Hauptleute gingen ihrer Wege, und Thorkils Dreibein folgte dem unglücklichen Ketil, um sicherzustellen, daß die Strafe auch ausgeführt wurde.
»Wenn es nach mir ginge«, brummte Thorkils, »hätte ich dein Bein abgebissen und Schluß.«
»Wenn es nach dir ginge, würdest du jedem das Bein abbeißen. Alle sollen so leiden, wie du gelitten hast, boshafter Alter.«
»Paß auf, was du sagst, Verurteilter«, schnappte Thorkils und hinkte mit erstaunlicher Anmut hinter Ketil her. »Sonst werde ich mich um dich kümmern.«
»Du und wer sonst noch?«
»Fordere mich nicht heraus, oder ich verzähle mich bei den Schlägen der Standuhr. Und zwar nicht zu deinen Gunsten.«
Nach dieser Drohung hielt Ketil den Mund. Seine unmittelbare Zukunft lag in Thorkils' Händen, vor allem, da er selbst nicht zählen konnte. Er fragte sich, ob Thorkils das wußte. Ein ausgesprochen beunruhigender Gedanke .
Fourme d'Ambert
Astrid, die Seherin und Prophetin des Stamms der Wilden, zog sich zurück, um mit den Schatten Zwiesprache zu halten. Da sie keine Beziehungen zu anderen Mäusen aufbauen konnte, von den flüchtigen Treffen mit Gorm einmal abgesehen, hatte sie eine seltsame, exotische Verbindung zu den Schatten um sie herum geknüpft. Sie sprach mit ihnen und erhielt Antwort. Natürlich konnte keine andere Maus diese Antworten hören. Astrid störte das nicht. Sie fühlte sich im Gegenteil von den Göttern auserwählt. »Schatten«, sagte sie, und ihre Stimme hallte zwischen den Töpfen und Pfannen wider, »warum habt ihr mich nicht vor dem Angriff gewarnt?«
Ihre Stimme klang streng, denn sie empfand keine Angst vor den dunklen, nebligen Gestalten, mit denen sie sprach. Sie war der Ansicht, man hätte ihr ein Zeichen geben sollen, daß ein Angriff der 13-K auf die niemals leer werdende Speisekammer bevorstand. Wenn sie ihren Stamm rechtzeitig hätte warnen können, wäre ihr große Ehre zuteil geworden.
Die Schatten wollten nicht sprechen.
»Nun?« fragte sie beharrlich.
Schließlich erhielt sie eine Antwort: »Du hast uns vernachlässigt.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe erst vor drei Stunden mit euch gesprochen.«
»Du warst aber mit deinen Gedanken woanders. Du hattest Gorm im Sinn, nicht uns. Du hast genüßlich an deine letzte Zusammenkunft mit ihm gedacht, damals hinter dem Gemüseregal. Eine Priesterin sollte sich keinen fleischlichen Freuden hingeben, sondern der Keuschheit pflegen.«
»Für mich ist es jetzt anders. Ich bin unfruchtbar. Ich kann keine Jungen mehr gebären.«
»Es gefällt uns nicht, daß du die Gegenwart dieses barbarischen Mäuserichs genießt. Er empfindet keine Zärtlichkeit für dich. Er benutzt dich nur, um seinen Spaß zu haben.«
»Und ich benutze ihn. Ich kann nichts dafür, er ist der einzige, der mich will.«
Astrid war den Tränen nahe. Immer schalten die Schatten sie wegen ihrer Liaison mit Gorm. Sie schienen eifersüchtig auf ihn zu sein, weil er ihr etwas geben konnte, dessen sie nicht fähig waren. Trotzdem brauchte sie diese Gespräche mit den Schatten, da sie die einzige echte Freude ihres Lebens waren.
»Ihr Schatten habt einfach nicht diese Gefühle. Ihr seid nur neidisch, weil ihr nicht wißt, wie man zärtlich zueinander ist .«
»Natürlich sind sie neidisch.«
Astrid blinzelte. Die kupfernen Töpfe und Pfannen glänzten im Mondlicht. Sie sah nichts als ihre Schatten. Und doch stammte die kritische Stimme sicher nicht von einem ihrer Freunde. Irgend jemand hatte frevelhafterweise ihre Unterhaltung mit den Schatten belauscht. Sie würde Gorm davon in Kenntnis setzen. »Wer ist da?« fragte sie.
»Ich bin es, Iban!« Ein Gelbhalsmäuserich trat hinter einem großen Topf hervor. Er war größer als Astrid und wirkte ebenso bescheiden wie guterzogen.
»Ich kenne dich«, sagte Astrid. »Du bist ein Totenkopf.«
»So nennt man mich«, seufzte Iban, »aber ich bin ein unwürdiger Anhänger des Gottes Yo, des Finsteren. Als sein Schüler muß ich mein Gedächtnis wie auch mein Selbst auslöschen, aber ich kann einfach nicht vergessen, wer und was ich war. Mir fällt es ungeheuer schwer, mich von meinem Wissen zu trennen, um die Große Unwissenheit zu erlangen. Gerade jetzt bedroht dein Duft meine Gelübde.«
»Wie schade.« Astrid fühlte sich durch dieses Geständnis geschmeichelt. »Was meintest du damit, als du sagtest, die Schatten seien natürlich eifersüchtig?«
»Nun ja - die Götter und ihre Schattenboten mißbilligen es, wenn du bei Gorm in Ekstase gerätst, weil eigentlich sie die Ekstase versprechen - in der Anderwelt, in Assundoon, dem Leben danach. Es ist ihr ureigenes Gebiet. Sonst haben sie nichts anzubieten. Also versuchen sie, die Ekstase zwischen Männchen und Weibchen abzuwerten.«
»Du scheinst ja eine Menge über Ekstase zu wissen.«
»Ich selbst lebe als Totenkopf natürlich keusch.«
»Und du glaubst, meine Schatten seien bloß eifersüchtig?«
»Ich weiß es genau. Das wäre jeder an ihrer Stelle. Du bist so schön.«
»Ich?« fragte sie verblüfft. »Man nennt mich immer unscheinbar.«
»Das sagen jene, die nicht wie ich in deine Seele blicken können. Sie ist ein wunderbarer Ort. Ein Ort der Schönheit. Der Gedanke, ein Nest mit dir zu teilen - oh, ich habe es dir ja gesagt. Ich bin nicht würdig, Totenkopf zu heißen. Mich beherrschen noch immer wilde, unbezähmbare Gedanken. Ich muß mich selbst mit meinem Schwanz peitschen, um meinen Geist zu reinigen ...«
»Das würde ich nicht tun«, sagte Astrid schnell.
»Ich muß es tun! Ich bin so unwürdig. Ich muß dich jetzt verlassen, bevor meine Gelübde gebrochen sind.«
»Ja, du mußt gehen«, flüsterte Astrid und wandte ihm halb den Rücken zu. Jedes andere Männchen hätte diese Geste als Einladung aufgefaßt.