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Der Briefkasten besaß eine schwere Feder und klappte meistens wieder zu. Zeitung und Briefe landeten gewöhnlich auf dem Fußboden, wo Hirnlos sie aufsammelte. Doch ihre Furcht schien von göttlicher Hand geplant zu sein. Es war, als habe der Gott der Zwergmäuse, der goldene Getreidegott, seinen Finger durch die Tür des Hauses gestreckt und ein Loch geschaffen, durch das sie entfliehen konnten.

Sie sahen einander an. »Meinst du, unser Stamm wird uns wieder aufnehmen?«

»Ist mir egal. Ich verziehe mich auf jeden Fall. Kommst du mit?«

Die Gefährtin nickte kurz. Sie liefen den Pfosten hinauf, das Geländer hinab, an der Türverkleidung hoch und durch den Schlitz, im dem die Zeitung steckte. Draußen in der Morgenluft blieben sie stehen, um Luft zu holen. Am grauen Himmel über ihnen standen noch blasse Sterne. Die beiden Ausreißerinnen zitterten am ganzen Leib. Sie schworen an Ort und Stelle, nie wieder freiwillig dieses Haus zu betreten.

»Da drinnen sind alle bekloppt«, bemerkte die eine.

»Ist wirklich ein verrücktes Haus«, erwiderte die andere. »Gut, daß wir draußen sind.«

Die beiden Zwergmäuse glaubten, sie seien zufällig dem Haus entkommen. Astrids Schatten aber hätten ihnen sagen können, daß dieses Haus grundsätzlich keine Zwergmäuse in seine Mauern aufnahm. Das Haus entschied selbst, wer in ihm leben durfte und wer nicht.

Erst kürzlich hatte es einen Außenseiter in seine Mauern eingeladen. Allerdings war diese Handlung lange vorherbestimmt. Der Name des Neuankömmlings war Trödler, und das Haus bereitete sich auf die Ereignisse vor, die seiner Ankunft folgen sollten.

Edamer

Der Stamm der Wilden mußte die 13-K-Bande für ihren Überfall auf die Küche bestrafen. Gorm der Alte führte den Vergeltungsschlag gegen den Holzschuppen in Begleitung seiner Doppelgänger Hakon und Tostig, die ihre neuen Narben zur Schau stellten. Hauptmann Gunhild und die Unsterblichen hatten wie immer die Aufgabe, Gorm von der Seite und von hinten zu decken.

»Assundoon! Assundoon!«

Der Schlachtruf der Wilden erscholl und beschwor die Götter der Anderwelt herauf, in die alle Krieger nach ihrem Tod eingingen. Immer vorausgesetzt, sie starben mit den Zähnen im Fleisch des Feindes.

Einmal trafen Gorms Unsterbliche auf Ulfs Auserwählte. Als die persönlichen Leibwachen der Anführer bemerkten, wen sie da bekämpften, zogen sie sich schnell zurück. Da sie einander ebenbürtig waren, entschieden sie sich, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht sinnlos zu vergeuden.

Zum Zeitpunkt des Überfalls befand sich auch Iban, der spirituelle Kriegerpriester der Totenköpfe, im Holzschuppen. Alle Stämme gestatteten es den Totenköpfen, nach Gutdünken unter ihnen zu weilen, da sie ja ohnehin nichts anderes als steinharte Krumen fraßen. An eigenen Territorien waren sie nicht interessiert. Die Totenköpfe trugen die Verantwortung für die geistigen Bedürfnisse der gesamten Mäusegemeinschaft und fungierten als ihr Gewissen.

Iban hatte den Versuch unternommen, einigen 13-K-Mäusen die Lehren Yos näherzubringen. Er hatte ihnen erklärt, daß Yo kein böser Gott war, obwohl er der Finstere und Unn die Strahlendhelle genannt wurden. Unn betrachtete Yo vielmehr als ihr Gegenstück, ihren Gefährten.

Als Gorm und seine Vorhut die äußeren Posten durchbra-chen, versuchte Iban davonzulaufen, anstatt seine Neutralität zu verkünden. Er wollte Astrid nicht noch einmal begegnen, da er sich seit ihrer letzten Zusammenkunft im Zustand der Sünde befand. Außerdem fürchtete er sich vor Gorm. Astrid war zwar nur ein Teil seines umfangreichen Harems, aber es würde ihm trotz allem nicht gefallen, wenn sich ein Kriegerpriester an eine seiner Favoritinnen heranmachte.

Er sauste auf dem schnellsten Weg zum Loch von Tunnel-gräberin. Unterwegs mußte er ein paarmal innehalten und sich verschiedene Berserker mit Ik-to-Bissen vom Leibe halten. Sie waren trunken vor Kampfeslust und achteten nicht mehr darauf, wen sie eigentlich angriffen. Plötzlich standen sich Iban und Astrid gegenüber.

Ihr Gesichtsausdruck war alles andere als erfreulich. Sie verstand sich ausgezeichnet darauf, ihr Gesicht in eine wütende Maske zu verwandeln, um die Gegner abzuschrecken. Mit Erfolg. Noch nie hatte Iban einen so fürchterlichen Ausdruck gesehen. Astrid hatte die Zähne gebleckt, ihre Augen waren nur noch haßerfüllte Schlitze, die Nasenlöcher rot und gebläht.

»A ... Astrid ... ich ...« Seine Stimme versagte.

Die Schreckensmaske verwandelte sich sekundenschnell in Anbetung. »Iban! O Iban!« Sie schaute sich rasch um und zischte: »Um Mitternacht auf dem Pfannenregal.«

Sie war verschwunden, bevor Iban ihr die Sache erklären konnte. Leider war es nicht Yos Wille, daß er die Erleuchtung vom letzten Mal noch einmal erleben sollte. Er eilte in den Garten hinaus, wo die Zwergmäuse mit ihren biegsamen Schwänzen an Grashalmen baumelten. Sie verfolgten die Schlacht im Holzschuppen. Iban konnte Drenchies schrilles Quietschen hören, als sie noch mehr Krieger an ihre Seite rief, um den rabiaten Thorkils Dreibein zu bekämpfen.

»Blutrünstiger Haufen«, schnappte Iban und schüttelte im Vorbeigehen einen Grashalm. Die arme Zwergmaus, die daranhing, klammerte sich fest, um nicht herunterzufallen.

Iban lief vorsichtig durch den dschungelartigen Garten. Überall standen Riesendisteln, große, purpurköpfige Pflanzen mit Stacheln, die bis in die Wolken emporwuchsen. Er kannte sich in der Außenwelt nicht aus, obwohl er wie alle Totenköpfe die eine oder andere Pilgerfahrt zu Stone, dem Haselmäuserich, unternommen hatte. Die Welt verwirrte ihn. Er liebte die engen, dunklen Ecken kleiner Zimmer. Dieses blendende Licht war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack.

Schließlich kam er zum Nest des Haselmäuserichs unter dem Klo. Die frische Geruchslinie sagte ihm, daß er sein Ziel erreicht hatte. Stone lief geschäftig umher, um die Grenzen seines Territoriums mit Urin zu markieren.

»Nimm Platz, nimm Platz«, rief der Haselmäuserich. »Ich komme sofort.«

Iban suchte sich ein Plätzchen im Schatten des Klos. Hier fühlte er sich halbwegs sicher vor Kreaturen, die vom Himmel herabstießen und ihn ins Jenseits tragen wollten.

Stone gesellte sich wenig später zu ihm und rollte den flauschigen Schwanz neben seinem gepflegten Körper ein. Er seufzte und sah sich glücklich um. »Ist die Welt nicht herrlich? Ihr Haselmäuse wißt ja gar nicht, daß ihr überhaupt lebt .«

»Ich bin ein Gelbhals«, berichtigte ihn Iban.

»Gelbhals, Hausmaus, wo ist denn da der Unterschied? Ihr sitzt alle in dieser verstaubten Kiste. Ihr solltet draußen in der Wildnis leben und etwas Vernünftiges fressen. Nicht diesen Müll da drinnen. Anständiges Futter. Die Früchte von Schneeball, Weißdorn, Haselstrauch und Wildrose. Das einzig Wahre!«

»Wenn du meinst.« Iban wirkte wenig überzeugt. »Ich persönlich halte die Außenwelt für ziemlich furchteinflößend. Ich bekomme Angst draußen. Diesen ganzen Streß würde ich keine Stunde überleben.«

»Unsinn, Unsinn«, erwiderte der andere. »Bevor du dein Urteil fällst, solltest du das Leben draußen erst einmal ausprobie-ren. Du würdest dich schnell daran gewöhnen. Wir Mäuse müssen zurück zur Natur. Dem Rest der Welt zeigen, wo es langgeht. Nimm Rinde zwischen die Krallen! Spüre die frische Erde! Vor Tausenden von Nächten, bevor uns die Nacktlinge vom rechten Weg abbrachten, lebten die Mäuse in endlosen Grasländern . Sie erstreckten sich bis in die Ewigkeit.« Seine Augen verschleierten sich. »Man sah nichts außer wogenden Halmen. Viele Arten. Dutzende und Aberdutzende. Uralte Grasländer. Damals gab es zahllose verschiedene Samen. Alle verschwunden.«

»Na ja, es ist natürlich schade, daß diese Gräser verschwunden sind, aber ...« Iban wußte nur, daß er im Haus geboren und aufgewachsen war. Er hatte niemals etwas anderes gekannt, bis er beschloß, ein Totenkopf zu werden. Die Totenköpfe mußten, auch wenn sie Anhänger Yos waren, zunächst alles erlernen und Erfahrungen sammeln (außer mit dem anderen Geschlecht). Entschieden sie sich für die Lehre Yos, waren sie verpflichtet, ihr gesamtes Wissen wieder zu vergessen.