»Schon gut. I-kucheng, du übernimmst die Organisation.«
In diesem Augenblick gesellte sich Astrid, die Hohepriesterin, mit einem dümmlichen Grinsen auf dem Gesicht dazu. Ihre Miene änderte sich schlagartig, als sie die ganze Versammlung entdeckte.
Gorm fuhr sie an: »Hast du nicht den Ruf zur Versammlung gehört? Wo bist du gewesen?«
»Hm, ganz in der Nähe.«
»Wo genau?«
»Ich war auf dem Pfannenregal«, erklärte Astrid. »Ich habe mit meinen Schatten gesprochen.«
»Du bist ständig auf dem Pfannenregal«, fauchte Gorm. »Was ist an diesen Töpfen und Pfannen so faszinierend? Kannst du dich nicht woanders mit diesen verfluchten Schatten unterhalten? Wenn du da hinmachst, streuen die Nacktlinge wieder vergiftetes Pulver. Willst du etwa die Jungen in Gefahr bringen?«
Astrid wedelte verlegen mit dem Schwanz. »Natürlich nicht, tut mir leid.«
»Das sollte es auch«, tadelte Gorm. »Vor allem, da du etwas Einzigartiges versäumt hast. Wir haben überlegt, wie wir uns von der Pest des Hauses befreien können. Was hältst du davon?«
»Pest?« fragte Astrid verständnislos.
»Die Nacktlinge«, knurrte Thorkils. »Wer sonst?«
»Uns von denen befreien? Darüber muß ich meditieren.« Sie verfiel augenblicklich in Trance. Im Gegensatz zu den meisten Bibliotheksmäusen war Astrid eine echte Mystikerin mit übersinnlichen Fähigkeiten. Sie konnte - wenn auch verschwommen - gewisse Aspekte der Zukunft voraussehen.
Ihre orakelhaften Aussagen fand Gorm, der präzise Angaben bevorzugte, meist unbefriedigend. Das Deuten von Prophezeiungen lag ihm nicht. »Nun?« brüllte er und riß Astrid aus ihrer Trance.
»Tut es nicht«, sagte sie mit leerem Blick. »Vertreibt nicht die Nacktlinge. Es wird in einer Katastrophe enden.«
»Unsinn!« schrie Gorm.
»Es wird eine große Hungernot ausbrechen«, flüsterte Astrid. »Eine Seuche wird das Haus heimsuchen.«
»Sinnloses Geschwätz!« rief Gorm.
»Viele werden sterben, wenige überleben«, schloß Astrid ihre Aussage.
»Was für ein Haufen Blödsinn!« schimpfte Gorm. »Da stellt man diese Leute ein, um vernünftige Prophezeiungen zu hören, und was kommt dabei heraus? Düstere Drohungen! Wir machen weiter mit dem Plan, was immer diese hysterische Stümperin behauptet.«
Skrang ergriff das Wort. »Sollen wir das wirklich tun? Erinnert ihr euch an die Legende vom heiligen Käse? Vielleicht hat Astrid recht - wie meistens.«
»Diesmal nicht. Und diese Mythengeschichte ist idiotisch -wann bitte hat sich eine Maus schon einmal in eine Katze verwandelt?«
»Trotzdem gefällt es mir nicht«, meinte I-kucheng. »Hast du ihre Augen gesehen?«
»Es mußt dir ja nicht gefallen«, sagte Thorkils grob. »Es liegt bei Gorm.«
Dessen Gesicht drückte Entschlossenheit aus. »Wir machen weiter.«
Gorm der Alte war schon zu Lebzeiten eine Legende. Jedes Kind des Stammes der Wilden kannte die Geschichte seines Aufstiegs zur Macht. Und nun warf er diese Legende in die Waagschale.
Gietost
Ursprünglich hatte Gorm sechs Geschwister. Allerdings war sein Appetit auf die Milch seiner Mutter so groß, daß nur drei von ihnen übrig blieben. Mit ihm überlebten seine Brüder Hakon und Tostig die Schlacht um die Zitzen. Obwohl die Brüder anfangs ungefähr gleich groß und schwer waren, entwickelte sich Gorm schon bald zum boshaftesten, brutalsten und rücksichtslosesten Mitglied des Trios. Die anderen folgten ihrem Anführer auf Schritt und Tritt.
Gorm kannte nur zwei Ziele im Leben: seinen unermeßlichen Ehrgeiz und das Wohl seiner Mutter. Als Heranwachsender hatte er seinen Vater getötet, weil dieser mit seiner Mutter um ein Stück Käse kämpfte. Gorm zerfetzte seinen Leib, während die Brüder zuschauten. »Niemand rührt meine Mutter an«, erklärte er.
Seine weichherzige, aber törichte Mutter bestärkte diesen furchtbaren Mäuserich in seinem Traum, Anführer zu werden, obwohl Gorms Vater nur ein einfacher Soldat gewesen war. Als Gorm dem damaligen Anführer, Olaf dem Abscheulichen, offen seine ehrgeizigen Pläne darlegte, lachte dieser nur und nannte Gorm »zu alt für seine Jahre«. Von da an trug er voller Stolz den Namen Gorm der Alte.
Gorm der Alte wurde schnell befördert, weil er sich durch ungeheuren Kampfesmut auszeichnete. Er schien unbesiegbar zu sein. Immer an vorderster Front, schlug er sich mit Geschick und Kraft. Bald war sein Name gefürchtet. Auf diese Weise wurde er automatisch zum Nachfolger Olafs des Abscheuli-chen, als man diesen tot auffand. Olafs Verwandte streuten das Gerücht aus, er sei von Gorms Anhängern ermordet worden, da sie selbst seinen Sohn Harald, den nicht so Abscheulichen, als neuen Anführer propagierten. Gorms Kriegern gelang es jedoch, diese Kampagne weitgehend zu unterdrücken, und er selbst schlug Harald im blutigen Zweikampf. Die verbleibenden Aufrührer stießen zu Gorms Armee, doch seither herrschte im Stamm der Wilden der Geist der Rebellion. Nur dank seiner Schreckensherrschaft gelang es Gorm, seine Untertanen im Zaum zu halten.
Der neue Anführer festigte seine Position, indem er seine Mutter zur Allerhöchsten Hohepriesterin ernannte und seinen Brüdern hohe Posten in der Armee verschaffte. Als seine Mutter starb, wandelte Gorm den Titel der Allerhöchsten Hohepriesterin in den der Hohepriesterin ab, die nun höchste Würdenträgerin im Tempel des großen Gottes Assundoon war. Zur Zeit bekleidete Astrid dieses Amt.
Schon zu seinen Lebzeiten rankten sich Legenden um Gorms Aufstieg zur Macht. Später berichtete die Mäusehistorie, daß diese Machtübernahme schicksalsträchtig mit der Ankunft des Mäuserichs zusammenfiel, der sie alle in der Stunde der Veränderungen anführen sollte. Frisches Blut regierte den Stamm der Wilden. Die alten Traditionen der Küchenbewohner galten nichts mehr und ermöglichten den Anbruch einer neuen Ära.
Wensleydale
Draußen in der Hecke bildeten die Rhythmen des Lebens und der Erde eine Harmonie. Hier drinnen schlug der Puls des Lebens unabhängig von dem der Natur. Das Haus besaß einen eigenen Herzschlag. Trödler spürte dieses störende Mißverhältnis während seiner Mußestunden in der Bibliothek. Löste sich etwas aus der Harmonie des Planeten, bestimmte keine übergeordnete Macht mehr wie bisher seinen Lebensrhythmus.
Diese Isolation barg Gefahren in sich.
Trödler war nicht besonders glücklich in der Bibliothek. Von Büchern konnte man nicht leben und nicht sterben. Er unterhielt sich oft und lange mit Jago, dem Gourmet unter den Buchfressern. Dieser hatte ihm geduldig erklärt, welches die besten, schmackhaftesten und nahrhaftesten Bücher waren.
»Vorsicht bei glänzendem Papier. Es wirkt anziehend auf Laien, verklebt aber leicht die Eingeweide. Achtung auch bei knusprigem Papier mit dicken, schwarzen Insektenlinien -schon viele Mäuse haben sich damit vergiftet. Halte dich fern von Büchern mit Käsebildern. Ich kenne Mäuse, die im Wahnsinn endeten. Meist überfressen sie sich daran in der Hoffnung, die Bilder stellten echten Käse dar. Das führt nach kurzer Zeit zum Tod. Schau solche Bücher am besten gar nicht erst an. -Ein Ledereinband ist viel kulinarischer als ein Pappumschlag. Denk immer an meine Maxime: >Besser alt und weich als steif und frisch.< Seiten, die sich wie Löschpapier anfühlen, sind am angenehmsten. Ansonsten solltest du dich nach Büchern umschauen, die mit toten Ohrwürmern gekennzeichnet sind ...« Jago zeichnete mit der Pfote die folgenden Hieroglyphen in den Staub: Klassiker. »Bücher mit zerquetschten Spinnen auf der Vorderseite sind leicht verdaulich, besitzen aber nur geringen Nährwert und können Durchfall hervorrufen . « Wieder malte er Hieroglyphen: Sachbuch. »Dann sind da noch die mit den stacheligen Insekten, die einem im Hals stecken bleiben, die mit Insektengruppen von unglaublicher Länge, die Würmer hervorrufen, große, runde Spinnen ohne nennenswerten Inhalt, seltsame, kleine Ameisen mit zu viel Säure - alle zusammen ergeben einen Eintopf, der die Geschmacksnerven enttäuscht.« Diese Werke tragen irgendwo auf ihrem langweiligen Einband die folgende Aufschrift: Moderne Erzählliteratur. »Was ich mir wirklich wünsche«, fuhr Jago fort, »sind vollkommen geformte Insekten mit sämtlichen Beinen, die frisch zerquetscht wirken, aber reif schmecken wie guter Käse. Ich träume von einem Buch, das eine Mischung dieser Insekten auf gutverdaulichem, schlichtem Papier enthält. Das nicht vorgibt, mehr zu sein als eine hübsche Mahlzeit mit angenehmen Nachgeschmack - aber leider habe ich so etwas noch nicht gefunden.«