Für welches Papier er sich auch entscheiden mochte, Trödler blieb immer unbefriedigt.
Sicher, gelegentlich kam ein Nacktling mit Futter in die Bibliothek, aber die Schlacht um die Krümel war äußerst brutal. Trödler wunderte sich stets, daß diese Kämpfe nicht mehr Verletzte forderten. Die ganze Kolonie lebte am Rande des Existenzminimums.
Außerdem befanden sich die Buchfresser an der Schwelle zum Wahnsinn. Da sie ständig dem Hungertod ins Auge sahen, neigten sie zu Halluzinationen und Visionen, die sie Magie nannten. Die meiste Zeit waren sie völlig außer sich, sangen oder brabbelten seltsame Litaneien, deren Bedeutung, gelinde gesagt, verschwommen war. Manchmal wurde Trödler durch Schreie aus dem Tiefschlaf gerissen, bei denen ihm das Blut in den Adern gefror. Dann rannte er zum Rand seines Regals. Statt eines grauenhaften Gemetzels bot sich ihm nur der Anblick einer einsamen Maus, die mit glasigem Blick umherwanderte und »Eine Vision! Eine Vision!« brüllte.
Oft sprach Frych die Gefleckte zu ihrem Stamm, während sie ihre Jungen säugte. »Buchfresser«, hatte sie an diesem Morgen erklärt, »ich habe euch zusammengerufen, weil Begebenheiten ihre Schatten vorauswerfen. Gorm der Alte hat sein Begehren angekündigt, eine Zwiesprache mit eurer Anführerin zu halten. Nun bemerken wir alle Ungeschlachtheit im Stamm der Wilden. Die Kundgaben des Anführers sind außergewöhnlich ungefüge. Jedoch sind meine sensiblen sozialen Filter sehr anstellig, wenn es um die Entschlüsselung jener rohen Botschaften geht. Daher werde ich mit Gorm zusammentreffen und seinen Vorschlägen mein Ohr leihen, denn im Kern seiner Empfehlungen liegt der Weg zu unbegrenztem Käse verborgen.«
Ein aufgeregtes Murmeln erhob sich, als das mythische Wort fiel.
»Worum geht es eigentlich?« erkundigte sich Trödler bei Owain und Mefyn, die in Nase-Hoch-Stellung neben ihm auf dem Regal saßen.
Owain runzelte die Stirn, doch Mefyn antwortete: »Gorm der Alte möchte mit Frych reden.«
Trödler war überrascht. »Das ist alles?«
»Na ja, für dich mag das nicht weiter beeindruckend sein«, erwiderte Owain leicht herablassend, »aber für uns ist es ein folgenschweres Ereignis, wenn sich die Anführer zweier Stämme treffen.«
»So hatte ich es eigentlich nicht gemeint. Ich wollte nur wissen, ob Frych sonst nichts gesagt hat. Sie hat so viele komplizierte Wörter benutzt und hat so lange gesprochen, daß ich dachte - nun, ich dachte, sie müsse viel mehr gesagt haben.«
»Nein, das war der Kern der Sache«, entgegnete Mefyn.
»Verstehe. Also werden der Stamm der Wilden und die Buchfresser über etwas sprechen, nicht wahr?«
»Genau.«
»Worüber wohl?«
»Ich vermute, sie werden es uns zu gegebener Zeit mitteilen«, antwortete Owain.
»Du vertraust diesen Anführern?« Trödler gelang es nicht, seine Skepsis zu verbergen.
Mefyn wirkte schockiert. »Natürlich! Sie sind doch aufgrund ihrer intellektuellen Überlegenheit unsere Anführer! Sie verstehen, was wir einfachen Mäuse nicht begreifen können. Dann vereinfachen sie es und übertragen es in unsere Sprache.«
Trödler fragte sich, ob er besser den Mund halten sollte, konnte sich aber nicht bremsen. »Ich bin noch nicht lange bei euch, doch ich dachte, Gorm sei der Anführer der Wilden, weil er ein rücksichtsloser, gieriger, machtverliebter Tyrann ist .«
»Natürlich fehlt es ihm an einer gewissen Rücksichtnahme, das gebe ich zu«, räumte Mefyn ein.
». und Frych die Gefleckte ist die Anführerin der Buchfresser, weil sie droht, jegliche Opposition mit Schwarzer Magie zu zerschlagen.«
»Frych kann eine Maus auf fünfzig Schritte Entfernung mit einem einzigen Blick verglühen lassen«, gab Mefyn zu.
»Und wie paßt dann bitte schön der ganze Kram mit intellektueller Überlegenheit da hinein?« fragte Trödler.
Mefyn wirkte ziemlich unglücklich. »Du mußt einfach glauben, daß sie besser sind als gewöhnliche Mäuse. Sonst würden schlicht und einfach brutale Gewalt und Unwissenheit unser Schicksal bestimmen.«
Daraufhin sagte Trödler nichts mehr. Er bemerkte, wie aufgebracht die anderen Mäuse waren. Sie billigten nicht, daß er ihr ganzes politisches System vor ihren Augen zerpflückte. Mefyn hat recht, dachte er. Du mußt einfach glauben, daß dich das Gute und Wahre leitet. Wenn nicht, bleibt dir nur die Erkenntnis, daß die Welt auf Chaos gegründet ist.
Draußen in der Hecke hatte sich Trödler auf seinen eigenen Verstand verlassen. Hier im Haus sollte er nun auf den Verstand anderer Mäuse vertrauen. Und mehr noch: Die anderen Mäuse folgten selbst wiederum Mäusen, die - so kam es ihm jedenfalls vor - keinen blassen Schimmer von irgend etwas hatten. Die Blinden führten die Blinden. Obwohl er sich nicht traute, es als Neuankömmling auszusprechen, erschien es Trödler, als hätten die Allerschlimmsten hier das Sagen. Sicher, es gab kluge Mäuse. Da waren Cadwallon und Ethil, beide recht vernünftige Zeitgenossen. Leider hatte Trödler noch keinen Stamm kennengelernt, der von solchen Mäusen regiert wurde, denn es fehlte ihnen an Ehrgeiz, Anmaßung und Rücksichtslosigkeit. Eben diesen Eigenschaften verdankten die Anführer ihre hohe Stellung.
Anscheinend mußte man beschränkt und eiskalt sein, um es hier zu etwas zu bringen.
Trödler seufzte. Das alles war zu hoch für ihn. Wenn es darum ging, Dinge zu verändern, tat er ebenso wenig wie alle anderen. Der einzige Unterschied zwischen ihm und Mefyn oder Owain lag darin, daß er um die Misere wußte. Die anderen glaubten tatsächlich, sie hätten alles unter Kontrolle.
Er wanderte trübsinnig die Regale entlang, probierte das eine oder andere Buch. Nichts konnte den quälenden Hunger vertreiben. Sein Magen war wie eine Höhle, in der ein Tier saß und sich einen Weg ins Freie nagte.
Jago sprach ihn auf dem dritten Regal an und gab ihm ein paar Tips. Allmählich aber gewann Trödler den Eindruck, daß Jago außer technischem Jargon und professioneller Geheimnistuerei nicht viel zu bieten hatte. Er zog weiter, von Buchrücken zu Buchrücken. Er interessierte sich nur für frische, appetitliche Tinteninsekten.
Eine halbe Stunde später betrat ein Nacktling die Bibliothek. Die ganze Kolonie wartete geduldig, ob er Futter dabei hatte. Leider setzte er sich nur hin, wendete die Seiten eines Buches und starrte auf die Insekten.
Nach einer Weile gestand Trödler: »Ich bin so hungrig, ich könnte einen Hund verschlingen.«
Eine Maus namens Gwladys drehte sich zu ihm um. »Er würde scheußlich schmecken.«
»Ja, wahrscheinlich schon. Schau dir nur diesen Nacktling an, wie er zusammengefaltet dasitzt. Seltsame Wesen, nicht wahr?«
»Sie sind so blöd«, meinte Gwladys. »Sicher, sie haben viel Fleisch und Knochen, aber ihr Gehirn ist nicht größer als ein Staubkorn. Ein Wunder, daß ihre Gattung noch nicht ausgestorben ist.«
Trödler verzog sich in sein neues Nest im Rücken eines riesigen, ledergebundenen Buches, das am Ende des höchsten Re-gals lag. Die Höhe bot ihm Sicherheit. Das Wichtigste war aber der Rückentunnel zwischen dem Einband und den Seiten des Buches, denn er erinnerte ein wenig an das Nest unter der Hek-ke.
Er hatte den dunklen Tunnel mit weichgekautem Papier und Baumwolle ausgestopft. In der Bibliothek war es eigentlich warm genug, doch auch dieser Luxus erinnerte ihn ein wenig an sein Zuhause. Er quetschte sich in die schmale Röhre, so daß er durch die andere Öffnung in die Bibliothek schauen konnte.