Zahlreiche Mäuse hatten sich eingefunden, darunter auch der alte Diddycoy.
»Es sind nicht die harten Lebensbedingungen, die mich von hier vertreiben«, erklärte Trödler seinen Freunden und Verwandten in seiner Abschiedsrede. »Nun, da der Frühling eingekehrt ist, gibt es am Rande des Rüben- und Kornlandes genügend Futter. Auch die Einsamkeit ist nicht der Grund, obwohl ich als Einzelgänger gelte und keine Gesellschaft brauche. Auch hege ich keine Todesgedanken, da ich als Gelbhalsmäu-serich eine Lebenserwartung von fünfhundert langen Nächten habe - einem halben Nachttausend! Wie die meisten Mäuse bin ich dankbar für meine Langlebigkeit. Die Eintagsfliege kommt und geht, ihr kurzes, heftiges Leben dauert nur einen einzigen Tag - doch eine Maus ist beinahe unsterblich.«
Ein Murmeln ging durch die Zuhörer. »Wie wahr, wie wahr .«
»Nein, keiner dieser Gründe drängt mich zum Aufbruch. Ich habe den Ruf meiner Vorfahren vernommen. Sie hießen mich ins Land des Hauses zu gehen, wo mich eine große Schar erwartet. Daher muß ich euch und meine geliebte Hecke verlassen. Mag sein, daß ich eines Nachts zu euch zurückkehren werde .«
»Mein lieber Vetter«, schniefte Tinker.
»... doch dann bin ich vielleicht so alt wie Diddycoy. Natürlich nicht so weise, denn er ist einzigartig.«
»Versuch bloß nicht, mich einzuwickeln«, brummte dieser sichtlich erfreut.
»Doch bis dahin, meine Freunde, lebt wohl - und nehmt euch in acht vor Hermelinen, Schleiereulen, Wieseln und Konsorten.«
Und so machte er sich mit klopfendem, angstvollem Herzen auf den Weg.
»Zeig's diesen Hausmäusen!« rief ihm der junge Pikey nach.
Diese Bemerkung erschien ein wenig taktlos, da viele Haus-mäuse in der Hecke lebten. Einige von ihnen hatten sich sogar von Trödler verabschiedet. Man ließ es dem Kleinen jedoch durchgehen.
Trödler wackelte als Antwort mit dem Schwanz. Er dachte an seine gefährliche Reise und sagte sich, daß gute Ohren, eine feine Nase und schnelle Beine beträchtliche Sicherheit boten. Schließlich konnte er hoch in die Luft springen, so schnell flitzen, wie die Kreuzotter zubeißt, mit Hilfe seines Schwanzes auf den höchsten Zweigen balancieren und wie durch Zauberei die Farben seiner Umgebung annehmen. Sein Gehör war ausgezeichnet, die Sinne scharf, die Schnurrhaare empfangsbereit.
Trödler machte sich keine großen Sorgen wegen seiner Reise in die weite Welt und fürchtete nur den Hunger. Das Wichtigste war, daß er die Forderungen seiner Vorfahren erfüllte und sich vielleicht einen Platz in der Mäusegeschichte erwarb.
Und schließlich konnte er ja immer noch zurückkehren.
Ribblesdale
Nachdem er in den dichten Dschungel am Grabenrand getaucht war, kämpfte sich Trödler durch die Gräser und Halme. Er hoffte, keinem Raubtier über den Weg zu laufen. Unterwegs stieß er auf zahlreiche verschiedene Urinmarkierungen, doch solange er nicht stehen blieb, drohte ihm keine unmittelbare Gefahr.
Eine Weile zog sich sein Weg an der vertrauten Hecke entlang, doch irgendwann führte ihn seine Wanderung weg von ihr und in ein Getreidefeld. Er sagte sich immer wieder: »Du schaffst es, du schaffst es.« Und zu seiner Überraschung gelang es ihm auch.
Der junge Hafer war noch grün, die Ähren hoch über ihm ließen traurig die Köpfe hängen und bildeten eine Art Balda-chin. Dann und wann kletterte er an einem Halm empor, um sich bei freundlichen und weniger freundlichen Mäusen nach dem Weg zu erkundigen. Er traf auf Gelbhälse wie ihn selbst, einige Waldmäuse und Zwergmäuse.
Manche vertrieben ihn, andere übersahen ihn einfach, ab und zu bekam er auch einen Hinweis.
»Entschuldigung«, sagte er stets, »wo geht's bitte zum Haus?«
»Lauf immer mit der Sonne über der linken Schulter«, erhielt er zur Antwort. »Dann kommst du an einen breiten Graben und fragst am besten noch mal nach.«
Das mit der Sonne über der Schulter klang ja ganz einfach, solange man sich nicht wie er am Boden eines dichten Getreidewaldes oder Kohlfeldes befand und die Sonne überhaupt nicht sehen konnte. Nach zwei Tagen und Nächten fühlte er sich allmählich wie ein altgedienter Soldat auf dem Feldzug. Er war immer auf der Hut vor Räubern - tagsüber vor Hermelinen, nachts vor Eulen. Er versuchte, sich nahe den Ackerfurchen, Gräben oder Baumwurzeln mit ihren zahlreichen Schlupflöchern zu halten. Wenn er Ruhe brauchte, vergrub er sich in weichem Moos, das ihm für kurze Zeit Schutz bot.
Einmal stieß er auf einen Dachs - einen gigantischen Burschen, der an den Eicheln am Fuß eines mächtigen Baumes schnüffelte. Trödler blieb beinahe das Herz stehen. Dachse waren nicht zu stolz, nach einer unvorsichtigen Maus zu schnappen. Der Riese zog vor Trödlers Augen einen Erdwurm aus seinem Loch und verschlang ihn genüßlich.
Irgendwann erreichte er lahm und müde ein fremdes Land jenseits einer breiten, verlassenen Straße. Ihm war, als sei er einmal um die Welt gewandert. Die glatte, harte Fläche unter seinen Füßen zeigte ihm an, daß er sich nun in einem Gebiet befand, für das neue Regeln galten. Er brauchte eine Weile, um den Teer, der zwischen seinen Zehen klebte, zu entfernen, doch schließlich konnte er sich gründlich umschauen.
Es dämmerte. Der Himmel verschwand beinahe hinter den langen, geschwungenen Gräsern, die fünfmal so hoch waren wie er selbst. Doch über diesem Wald ragte noch etwas empor, ein ungeheures, eckiges Gebilde, bei dessen Anblick ihn Erleichterung und zugleich Vorahnung durchflutete. Zweifellos hatte er sein Ziel erreicht. Dies mußte das Haus sein, zu dem ihn die Stimmen seiner Vorfahren gesandt hatten.
Irgend etwas regte sich in ihm, ein Wissen, das von Generation zu Generation überliefert worden war. Einige seiner Ahnen hatten in festen Steinbauten gelebt, inmitten dicker Wände, strohbedeckter Fliesenböden und zinnenbewehrter Mauern und Türme. Es waren herrliche Bauten mit vielen Zimmern und Gängen. Oft hatten die Nacktlinge, die diese Häuser bewohnten, eiserne Anzüge angelegt, nach eisernen Stöcken gegriffen und waren gegen andere Nacktlinge angetreten, die mit Baumstämmen an ihre Tür klopften. Alle diese Bilder stiegen in Trödler auf, als er die Erinnerungen an die Vergangenheit zu Hilfe rief, um die Gegenwart zu verstehen.
Das große Haus vor ihm warf einen unwirklichen Schatten über die ganze Gegend. Aus seiner Oberfläche starrten viele geheimnisvolle, viereckige Augen hervor, deren Licht den Gelbhalsmäuserich blendete. Das Haus selbst wirkte düster und böse wie ein lebendes Wesen.
Vielleicht hätte eine andere Maus an diesem Punkt kehrtgemacht, aber Trödler sagte sich, daß er der Eine war und die Vielen dort drinnen auf ihn warteten. Bei den Bewohnern handelte es sich vermutlich größtenteils um Hausmäuse, wilde, kleine Kreaturen, die zunächst bissen und dann erst Fragen stellten. Sie kannten jeden Winkel ihrer Heimat, was für Neuankömmlinge von draußen einen großen Nachteil bedeutete.
Trödler hörte die Stimmen einiger Zwergmäuse im Dschungel vor dem Haus und folgte ihren Spuren, bis er auf eine stieß, die an ihrem langen, nützlichen Schwanz von einem Grashalm baumelte. Er sprach sie freimütig in seinem Heckendialekt an.
»Wer lebt in dem großen Land über den Gräsern?« fragte er unverblümt.
Die Zwergmaus schaute ihn überrascht an. Vermutlich hatte sie ihn nicht kommen hören. Sie ließ sich herunterfallen, setzte sich mit einem Samenkorn in den Pfoten auf die Hinterbeine und knabberte drauflos. Nachdem sie gefressen hatte, ließ sie sich nach vorn fallen. Sie schnüffelte und scharrte, um zu prüfen, ob von dem Neuankömmling eine Gefahr ausging, und entschied dann, daß der große Gelbhals harmlos sei.