Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, bis sich Leichtfuß und Trödler gesammelt hatten.
»Ich dachte, er - sie - ich dachte, Ulug Beg sei ein Männchen.«
»Sie liebt es ein bißchen geheimnisvoll«, erklärte ihr Sohn. »Meine Mutter ist vor ungefähr eintausendfünfhundert Nächten geboren.«
Trödler ergriff das Wort. »Aber sie ist nicht weiß wie du, sondern eher schmutzig-grau.«
»Das bin ich im Augenblick auch.«
Trödler zuckte mit Schnurrhaaren und Schwanz. »Verstehe. Sie ist schmutzig geworden, weil sie schon so lange draußen lebt. Da hast du uns aber eine Überraschung bereitet, Kleiner Prinz. Ich hoffe, die Geschichte stimmt.«
Die weiße Maus sah ihn schockiert an.
»Wir sollten das besser für uns behalten«, rief Leichtfuß. »Gorm bekommt einen Schlag, wenn er erfährt, daß er die Ratschläge einer zahmen, weiblichen Maus angenommen hat.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Trödler. »Ulug Beg selbst möchte sicher auch nicht, daß es bekannt wird. Sie bleibt lieber die mystische Kreatur, die älter ist als die Zeit. Ich schlage vor, wir respektieren ihren Wunsch und verschweigen ihre wahre Identität.«
»Schöne Rede«, meinte der Kleine Prinz leise, rollte sich hinten im Nest zusammen und schlief ein.
Trödler spürte, daß ihn seit der Entdeckung des Käfigs etwas gedrängt hatte, die weiße Maus am Leben zu lassen. Ob es wohl die Stimmen der Vorfahren waren, die auf diese Weise zu ihm sprachen? Wollten sie ihn davon überzeugen, daß der Kleine Prinz den Mäusen zu irgendeiner Stunde nützlich sein konnte? Trödler wußte nur, daß er den Kleinen Prinzen vor den Krallen der anderen Mäuse bewahren mußte.
Leichtfuß warnte ihn aber, da sie Schwierigkeiten voraussah, und sie behielt recht.
Innerhalb einer Stunde drängte sich ein Dutzend Mäuse vor dem Nest. Alle erkundigten sich nach dem »Fremden«, von dem man ihnen berichtet hatte. Sie wollten ihn kennenlernen, doch Leichtfuß erklärte, es sei unmöglich. »Er ist sehr krank«, meinte sie, »er hat - hm - Skorbut. Wir wissen nicht genau, ob es ansteckend ist. Ihr wollt doch keine Epidemie verursachen, oder?«
Nach dieser Bemerkung zerstreute sich die neugierige Menge überraschend schnell.
Später bedauerte Leichtfuß ihre Worte über die Epidemie, da die Stammesführer daraufhin eine Versammlung aller Stämme einberiefen. Sie erklärten, daß der Fremde in der Wildnis ausgesetzt werden müsse, wenn er tatsächlich unter einer anstek-kenden Krankheit litt - am besten gemeinsam mit Trödler und Leichtfuß, weil sie sich vermutlich angesteckt hatten. Nur mit Hilfe seiner geballten rhetorischen Fähigkeiten gelang es Trödler, dieses Schicksal abzuwenden. Er überzeugte die Anführer, daß er und Leichtfuß besonders vorsichtig gewesen seien und der Fremde gewiß keine ansteckende Krankheit verbreiten werde.
Nach langen Erörterungen wurde seine Verteidigung anerkannt. Gorm der Alte ordnete jedoch an, daß sich Leichtfuß, Trödler und Eh-he von jungen Mäusen fernhalten müßten, bis sich der Zustand des Fremden gebessert hatte. »Und von mir könnt ihr ihn auch fernhalten«, knurrte er.
Trödler versicherte glaubhaft, daß Eh-he ihm keinesfalls zu nahe kommen werde.
Nach der Versammlung starb die Neugier auf den Fremden eines natürlichen Todes. Das Nest wurde nicht länger belagert. Trödler und Leichtfuß konnten wieder in Frieden leben.
Dieses Leben war jedoch nicht mehr als ein elendes Dahinvegetieren. Die Mäuse fraßen inzwischen Putz und Gips von den Wänden, Klebstoff, Stücke von Fußmatten, Sackleinen und Linoleum. Sie scheuten auch vor alter Seife aus dem Badezimmer nicht zurück. Der Gedanke an Futter wurde zu einer Manie und führte zu Träumen von lebendem Gemüse, tanzenden Käsestücken und zappelnden Würstchen. Es gab einige Todesfälle, vor allem unter den Jüngeren. Die Mäuse suchten die Schuld für diese Katastrophe immer bei den Falschen. Sie suchten sich unbeliebte Mäuse aus, statt sich an Gorm und die anderen Anführer zu halten, und griffen jene an.
Bei der Suche nach einem Sündenbock klagte oftmals ein Stammesmitglied das andere an.
»Warum hast du mich nicht davon abgehalten?« brüllte Gorm Ketil an. »Warum hast du nicht gesagt, der Plan sei dumm?«
»Es ist Astrids Schuld«, verteidigte sich Ketil. »Sie hätte dich zurückhalten sollen - sie hat alles gewußt. Wir nicht.«
Die Mäuse wollten nun nicht mehr allein durchs Haus laufen, weil sie die Angriffe ihrer Artgenossen fürchteten.
Glückspilz, ein alter Unsichtbarer, krabbelte eines Abends an Gnadenvolls Loch vorbei, als ihm ein unbekannter Angreifer einen Stoß versetzte. Er landete im Garten, doch glücklicherweise wurde sein Sturz von einem Rosenstrauch gedämpft, und er kam mit einem blauen Auge davon.
Mefyn und Nesta von den Buchfressern wurden von einigen alten Wilden der Katzenanbetung beschuldigt.
»Wir haben sie in einer Ecke erwischt«, schrie Elfwin. »Sie haben miaut.«
Gytha Schönbart sagte: »Vermutlich hat ihre Schwarze Magie die Speisekammer leer gemacht. Wir sollten sie totbeißen. Wir sollten -«
»Ja«, kreischte Seiltänzer von den 13-K. »Habt ihr nicht bemerkt, wie viele Käfer es auf einmal gibt? Das sind gar keine Käfer, sondern getarnte Katzen, die sie herbeigehext haben. Zerquetscht sie!«
»Wir haben nur darüber gesprochen, wo wir nach Futter suchen könnten«, behauptete Nesta. »Wir haben überhaupt nicht miaut.«
»Lügner!« kreischte die versammelte Menge und umzingelte sie.
»Hört auf!« flehte Trödler, um ein wenig Ordnung bemüht. »Es gibt mehr Käfer, weil die Nacktlinge sie nicht mehr -«
»Auf ihn, verstümmelt ihn!« erschollen einige Stimmen aus der Menge. »Nieder mit der lästigen Außenmaus!«
Überraschenderweise rettete die schmutzige Maus Eh-he, die bei Trödler und Leichtfuß im Nest wohnte, Nesta und Mefyn vor der blutrünstigen Horde.
»Dann soll die Maus, die niemals eine Katze sein wollte, den ersten Biß tun«, rief der Kleine Prinz.
Sie hielten inne. Es gab nicht eine Maus unter ihnen, die noch niemals davon geträumt hatte, eine Katze zu sein und die Welt zu beherrschen. Tief im Inneren hatten sie sich alle irgendwann Größe und Stärke gewünscht, lange Reißzähne und halbmondförmige Krallen.
»Ich dachte, du sprichst nur die Hundesprache«, warf Ulf dem Kleinen Prinzen vor.
»Normalerweise schon«, warf Leichtfuß ein. »Er hat solche klaren Momente, in denen er sich wieder an die Nagersprache erinnern kann.«
Alle starrten das verschmutzte Geschöpf an.
Der Kleine Prinz trat vor. »Ich habe mir nie gewünscht, eine Katze zu sein, und werde daher den ersten Biß tun.« Er zwickte die beiden Missetäter scharf in den Rumpf.
Mefyn und Nesta heulten auf. Die Menge johlte.
»Du wolltest wirklich noch nie eine Katze sein?« rief Ulf der Maus Eh-he zu.
»Na ja«, meinte der Kleine Prinz und neigte verschmitzt den Kopf, »nur eine ganz kleine Katze.«
Erneutes Gebrüll. Alle schrien durcheinander, und jede Unterhaltung drehte sich um den seltsamen Neuankömmling und seine schlauen Bemerkungen. Währenddessen bedeutete Trödler Mefyn und Nesta, sich unauffällig davonzumachen. Kurz darauf brachten sie den Kleinen Prinzen auf den Dachboden zurück.
»Das hast du wirklich gut gemacht«, lobte Trödler. »Du gehst für andere Mäuse Risiken ein.«
»Ich muß verrückt gewesen sein«, erwiderte der Kleine Prinz. »Ich habe nur etwas aus einer alten Geschichte wiederholt, die ich von meiner Mutter Ulug Beg kenne.«
»Verrückt - aber gut«, nickte Trödler.
Die Probleme blieben jedoch bestehen. Selbst die Anführer entgingen nicht den Aggressionen. In der Vollmondnacht kam es zum Aufstand. Er brach im Holzschuppen aus und breitete sich über die Küche und die Bibliothek aus, bis er auch den Dachboden erreichte. Hohläugige Mäuse streiften plündernd umher, zerstörten Nester und griffen jeden an, der sich ihnen nicht anschließen wollte. Gorm der Alte und Skuli wurden in der Küche umzingelt und mußten um ihr Leben kämpfen. Beide schlugen sich tapfer und brachten einigen Angreifern blutende Wunden bei.