Roquefort
Schließlich erreichte Trödler eine Kreuzung, an der zahlreiche Löcher von der Hausseite her auf die Gänge des Labyrinths stießen.
Er entschied sich für ein Loch, aus dem ein starker Luftzug drang. Vermutlich handelte es sich um einen kürzeren Tunnel. Er mißachtete die deutlichen Urinmarkierungen anderer Mäuse und betrat einen weiten Raum mit einem steinernen Boden, Steinwänden und einer Holzdecke mit dicken Stützbalken. Sorgfältig betrachtete er seine Umgebung und hielt sich dabei in der Nähe des Ausgangs.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er seine Hecke verlassen und den Weg ins Unbekannte angetreten hatte. Das Heimweh saß ihm wie ein Kloß im Hals. Schon jetzt vermißte er das Aroma der Wildblumen, den kräftigen Geruch der Erde in den Gräben, den grünen Duft von Kleeblättern in der Mittagssonne. Ihm fehlte die rauhe Berührung der Baumrinde und der Geschmack der Pflanzensäfte. Er wollte spüren, wie die Blütenblätter des Weißdorns gleich sanftem Regen auf sein Fell rieselten. Die warme, vertraute Erde rief ihn zu sich. Seine Gefährten in der Hecke, ihre Geräusche und Gerüche zogen mit sanften Krallen an seiner Seele. Es fiel ihm schwer, diesem Ruf nicht zu folgen, doch seine Aufgabe trieb ihn voran.
Am anderen Ende des großen Raumes erkannte er einige Holzstufen, die zu einer Tür führten. Darunter drang Licht hervor. Vermutlich war er nun im Haus angelangt.
Das Gebäude erschien ihm unermeßlich, zehntausendmal größer als eine Kammer im Mäusebau. Vielleicht sogar noch größer. So etwas hatte Trödler noch nie erlebt. Angstvoll starrte er auf die weite, glatte Fläche des Fußbodens und kam sich sehr einsam vor.
Sein Verstand konnte die Unermeßlichkeit des Hauses kaum fassen. Hier gab es tiefe Täler, echoerfüllte Höhlen und Berge, an denen er kaum hochzuschauen wagte. Er war ein Mäuserich in einer fremden Welt, einer Welt, in die die ganze Mäusenation hineinpaßte. Es kam ihm vor, als habe der Schöpfer gesagt: »Schau her, in dieser Kiste habe ich das Universum geliefert.«
Trödler hielt sich in der Nähe des Lochs und kämpfte die Angst nieder, die er angesichts der überwältigenden Szenerie vor seinen Augen empfand. Zunächst mußte er sicherstellen, daß er sich in die Kammer hinauswagen konnte. Dort draußen konnte alles mögliche auf ihn warten: Katzen, Wiesel oder Hermeline. Er befand sich in der Fremde. Um zu überleben, mußte er mit dem Unerwarteten rechnen. Er schlug mit dem Schwanz hin und her, um mögliche Feinde aufzuscheuchen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr würde er in dem Loch verschwinden, aus dem er gekommen war.
In der riesigen Kammer befanden sich verschiedene Gegenstände, von denen er einige erkannte. Dort standen zwei hohe Flaschenregale. Flaschen kannte er aus seiner Zeit am Graben. Sein Blick fiel auf Kartons und Schachteln wie jene, die die Nacktlinge ebenfalls im Graben abgeladen hatten. Dann gab es noch zwei kleine Fässer, die quer auf einer Art Gestell lagen. Aus diesen Fässern tropfte eine Flüssigkeit, die nach gärendem Obst roch. Gleich daneben bemerkte Trödler zwei Gestalten, anscheinend Mäuse, eine etwas kleiner als die andere. Trödler hatte den Eindruck, er habe sie bei irgend etwas gestört. Sie schauten ihn an. Eine kam langsam und mit unsicheren Schritten auf ihn zu.
»Bleib, wo du bist«, schnappte Trödler, als die Maus nur noch zwei Körperlängen von ihm entfernt war. »Sag, was du willst.«
»Wozu denn, Meister«, erwiderte die Kreatur mit undeutlicher Stimme und richtete sich auf. »Wir hier unten sind ganz freundlich, Fusel, oder etwa nicht?« rief sie über die Schulter nach hinten.
»Klaro, Furz«, ertönte die Antwort ihres Kumpels, gefolgt von einem lauten Rülpser und den Worten: »Entschuldige bitte, meine Verdauung.«
Trödler betrachtete eingehend den Mäuserich, der Furz genannt wurde. Vermutlich handelte es sich um einen Hausmäuserich, obwohl er keineswegs danach aussah. Das Fell war matt und wies kahle, mit Ekzemen übersäte Stellen auf. Die Reste des Fells waren zottelig und ungepflegt wie Grasbüschel an einem Wintermorgen. Die Schwanzspitze fehlte, das linke Ohr war zerrissen, drei Schnurrhaare verkrümmt. Seine Augen waren rotgeädert und wäßrig, die Nase inmitten der Hängebacken wirkte aufgeschwemmt. Da Furz Fett angesetzt hatte, hing sein Bauch sackartig herunter. Zu alledem stank er nach etwas Verfaultem, dessen Quelle nicht so einfach zu ergründen war. Vielleicht der Atem - oder der Körpergeruch - oder auch beides.
»Darf ich fragen«, Furz ergriff plötzlich mit arrogantem Tonfall das Wort, »was du auf Stinkmorchel-Gebiet zu suchen hast? Nur eine Frage, kapiert?«
»Stinkmorchel?«
»Das ist der Name von unserm Stamm, dessen Häuptling zu sein ich stolz bin.« Furz plusterte sich auf, soweit es ihm seine Körperfülle erlaubte.
Trotzdem war Trödler größer, von seiner besseren Haltung ganz zu schweigen. Er richtete sich auf und schaute sich um. »Wie viele Mäuse gehören zu eurem Stamm?«
»Schlaue Frage«, höhnte Furz. »Aber wenn du schon fragst, nicht so viele. Nur Fusel hier und meine Wenigkeit. Waren mal mehr, sind ein bißchen geschrumpft. Aber ich und Fusel, wir kämpfen wie die Wilden, nicht wahr, Fusel?«
»Klaro«, lautete die von einem Schmatzen begleitete Antwort. »Wie die Wilden.«
»Wir nehmen es mit jedem auf, der reinkommt und Streit sucht. Dem zeigen wir's dann so richtig. Ach, wie bist du ei-gentlich reingekommen? Haben dich gar nicht kommen sehen.«
»Durch das Loch am Ende dieser Kammer.«
»Keller. Das hier ist ein Keller. Aus dem Loch da hinten? Du meinst, aus dem Labyrinth?«
»Stimmt genau.«
Furz stocherte zwischen seinen Zähnen herum. »Bist du nicht zufällig Tunnelgräberin begegnet?«
»Du meinst die Spitzmaus? Sicher, wir sind uns begegnet.«
»Und?«
»Und haben bis zum Unentschieden gekämpft.«
Furz schwankte näher heran. »Du - hast - mit - Tunnelgrä-berin - gekämpft?« flüsterte er heiser.
»Bis zum Unentschieden. Wir trennten uns als Feinde.«
»Ist ja ein Ding!« bemerkte Fusel, der unter einem der Fässer lag. Der struppige, kleine Mäuserich wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und spuckte etwas Undefinierbares auf den Boden. Nachdem er sich von diesem unwillkommenen Klumpen befreit hatte, wandte er sich an seinen Anführer: »Hat Tunnelgräberin eine Tracht Prügel verpaßt, was? Na, dann wird er's dir auch mal zeigen, Furz, nicht wahr?«
»Halt deine verkommene Schnauze«, brüllte der Chef zurück. Dann drängte er sich plötzlich an Trödler heran und blies ihm seinen fauligen Atem ins Gesicht. Sie standen einander Schnurrhaar an Schnurrhaar gegenüber.
»Hör mal zu, Meister«, flüsterte Furz verschwörerisch, »war nicht so gemeint, kapiert? Müssen nur unser Hab und Gut schützen. Ist unser gutes Recht. Aber du bist uns sehr willkommen, ganz ehrlich. Könntest gar nicht willkommener sein. Unser Keller steht dir zur Verfügung. Würdest du gern eine flüssige Erfrischung zu dir nehmen? Haben jede Menge Rotwein. Haben uns schon ein Schlückchen gegönnt. Willst du mithalten?«
»Rotwein?« Trödler war plötzlich sehr durstig. »Ich glaube, ich weiß nicht, was das ist.«
Furz lachte. »Hast du das gehört, Fusel?«
»Warum findet der Meister das nicht selber heraus?« rief Fusel.
Und so folgte Trödler dem Anführer zu der roten Lache auf dem Kellerboden. Er neigte den Kopf und kostete. Schmeckte wie Beerensaft. Und schon saßen sie zu dritt da und schlabberten die rote Pfütze auf. Zunächst blieb Trödler noch achtsam, bewahrte einen kühlen Kopf und schaute sich ständig um. Nach einer Weile jedoch war ihm alles egal.
Während sie den Wein aufleckten, sagte Fusel zu Furz: »Also weiter. Er kommt von draußen. Frag ihn.«