Ulf trat vor. »Dies geht die ganze Mäusenation an, nicht nur die Wilden. Du solltest einmal im Leben auf den Rat anderer hören, Vater. Trödler ist der richtige Anführer für uns, wenn er die Aufforderung annimmt. Ich kann mir keinen besseren denken. Er ist ehrlich und geradeheraus, besitzt Mut und Erfindungsreichtum. Und vor allem weiß er, wie die Welt da draußen ist.«
»Ich sage dir -«, schnarrte Gorm so laut, daß die Mäuse in seiner Nähe die Flucht ergriffen.
»Willst du dich mit der ganzen Nation anlegen?« fragte Ulf.
»Wenn es sein muß!« schrie der alte Krieger. Er bedauerte seinen Entschluß, Trödler zu dieser Versammlung eingeladen zu haben.
»Komm von deinem hohen Roß herunter«, riefen einige Mäuse in der Menge, »du machst dich lächerlich.«
»Tatsächlich?« dröhnte Gorm. »Ich werde -«
Sofort wurde er von einem Dutzend kräftiger Mäuse aus allen Stämmen umringt.
Unter ihnen war erstaunlicherweise auch Furz. »Halt die Luft an, Gorm, du wirst uns nicht ruinieren. Wir müssen hier raus. Das Haus macht uns kaputt - und du bist nicht der Richtige für die Sache. Ich mag den selbstgerechten Arsch auch nicht, aber er ist nun mal der Richtige.«
Gorm schaute sich um. Gytha Schönbart und Elfwin, Mitglieder seines eigenen Stammes, bedrohten ihn. Da wußte er, daß ihm keine Chance blieb. »Das werde ich nicht vergessen«, knurrte er. »Wenn der Marsch vorüber ist, genehmige ich mir Trödler zum Frühstück.«
Trödler wollte vortreten, um zu der Versammlung zu sprechen.
In diesem Augenblick stieß Gorm einen gellenden Schrei aus: »Assundoon!«
Der Anführer der Wilden stürzte sich auf Trödler, der schnell zur Seite sprang.
Gorm war wütend, weil sein erster Schlag danebengegangen war. Er richtete sich hoch auf, um größer zu erscheinen. Dann trommelte er mit dem Schwanz auf den Boden und stampfte mit den Hinterbeinen. Diese Drohungen untermalte er mit schrillen Schreien, die seinen Gegner einschüchtern sollten.
Statt sich das anzusehen, führte Trödler dasselbe Ritual aus. Nun, da er der Pfadfinder war und vor der Erfüllung seines Schicksals stand, würde er die Herausforderung annehmen.
Er tat den ersten Biß. Als Gorms aggressive Vorführung zu Ende war, schoß er vor und biß den Anführer in den Rücken. Gorm versuchte Trödlers Rückzug zum Gegenbiß zu nutzen, traf ihn aber nicht. Sicher, auch er landete den einen oder anderen Treffer. Er vergrub seine Schneidezähne mehrmals in dem Gelbhals, den er so sehr haßte. Seine Bisse waren unangenehmer als die seines Gegners.
Doch schließlich ließen Gorms Kräfte nach. Seine Angriffe wurden seltener und weniger energisch. Die Außenmaus teilte Biß um Biß aus, bis Gorm sich nur noch verteidigen konnte. Er wurde zusehends langsamer, in seinen Augen stand Schmerz, die Beine gaben unter ihm nach. Die Zunge hing ihm aus der Schnauze, und er japste nach Luft. Einige Zuschauer wandten sich ab, weil sie die Niederlage Gorms nicht mitansehen wollten. Gunhild schluchzte hemmungslos. Ulf schluckte und bedeckte sein Gesicht mit den Vorderpfoten. Astrid sah sehr traurig aus. Schließlich taumelte Gorm nur noch keuchend umher.
Trödler ließ nicht von seinem Gegner ab. Er war nun Trödler der Eine. Wenn er mit seinen Angriffen innehielt, würde Gorm seine Stärke wiedergewinnen und ihn vielleicht doch noch besiegen. Also setzte der Heckenmäuserich seine Angriffe fort, selbst als Gorm sich auf den Rücken wälzte.
Irgendwann sah sich Gorm gezwungen, die geforderten Laute der Unterwerfung auszustoßen. Der Kampf stand hoffnungslos für ihn und würde seinen sicheren Tod bedeuten, wenn Trödler seine Bisse fortsetzte. Der Mächtige war gestürzt, und jene, die er unterdrückt hatte, sannen bereits auf Rache.
Als Trödler die erwartete Demutsbezeugung bemerkte, griff er nicht weiter an. Er hatte den Zweikampf gewonnen. Zum ersten Mal im Leben war Gorm im Kampf Maus gegen Maus unterlegen.
Nachdem sich Trödler zurückgezogen hatte, stürmten andere Mäuse vor und bissen den hilflosen Gorm. Er lag am Boden, während die Zähne seinen Rumpf, den Kopf und die Flanken trafen. Auf diese Weise wurden Verlierer von den Angehörigen der untersten sozialen Stufe bestraft. Die Anführerschaft seines Stammes würde er sich zurückerkämpfen müssen, indem er ein Stammesmitglied nach dem anderen unterwarf. Sobald er einen Kampf verlor, war seine Stellung auf immer dahin.
»In Ordnung«, schrie Trödler, »es reicht! Laßt ihn in Ruhe!«
Noch einige Bisse, und sie überließen Gorm sich selbst, der als mitleiderregendes Bündel, bedeckt vom Speichel anderer Mäuse, am Boden lag. Er blutete kaum, doch der Schmerz der Bißwunden und der Demütigung war kaum zu ertragen.
Astrid ging zu ihm. »Gorm, ist alles in Ordnung?«
»Laß mich in Ruhe!« zischte er. »Laß mich bloß in Ruhe!«
»Du hast dein Bestes gegeben. Er war zu stark für dich.«
Gorm wandte seiner Konkubine den mächtigen Kopf zu. »Das wollte ich eigentlich nicht hören«, sagte er sanft. »Es hilft mir überhaupt nicht. Sag mir lieber, daß er tot ist.«
»Er ist es nicht«, erwiderte Astrid.
»Dann gibt es keine Götter, denn meine Gebete wurden nicht erhört. Sag mir alles, aber nicht, daß er stark ist. Denkst du etwa, das könnte mich aufheitern, Hure?«
Astrid schüttelte traurig den Kopf und ging wieder zu der Versammlung. Trödler wurde gerade zum Leiter der Expedition ernannt, die sich auf die Suche nach dem Gelobten Haus machen sollte. Er versprach, seine Pflichten ernst zu nehmen und sich Helfer zu suchen.
Astrid wußte, daß er sein Bestes geben würde. Er war zuverlässig und vertrauenswürdig. Er besaß Ausstrahlung. Und vielleicht wollte er auch etwas beweisen. Doch er war nicht der große Gorm, hatte nicht dessen donnernde Kraft, dessen völlige Mißachtung der Gefahr. Es würde keinen zweiten Gorm geben.
3. TEIL.
Die Reise zum Gelobten Haus
Trappistes
Eine große Expedition will vorbereitet sein.
Die Mäuse verwendeten lieber den Begriff Expedition als Auszug, weil sie nicht wahrhaben wollten, daß es ein Abschied für immer sein könnte. Alle außer Trödler waren im Haus geboren, in dem auch ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gelebt hatten und gestorben waren. Dies war das Land ihrer Seele, in dem die Geister wohnten, das Land ihrer Väter und Mütter, ihrer Schreine und Götter. Den Gedanken, das Haus ohne die geringste Hoffnung auf Rückkehr zu verlassen, hätten sie nicht ertragen. Also betrogen sie sich mit dem Wort Expedition, das - wenn auch nicht für sie selbst, so doch vielleicht für ihre Nachkommen - eine Heimkehr verhieß.
Astrid würde Trödlers Stellvertreterin sein. Gunhild teilte die Mäuse in Gruppen ein, die jeweils von einer Maus angeführt wurden. Da es im Winter wenig Geburten gab, waren die Jungen alt genug, allein zu laufen, und mußten nicht von den Erwachsenen getragen werden.
Sie verbrachten einen ganzen Tag und eine Nacht damit, sich geistig auf den Abschied vorzubereiten. Dem Haus muß es vorgekommen sein, als seien die Mäuse bereits aufgebrochen, denn sie lagen einfach nur still an ihren Lieblingsorten und hingen der Vergangenheit nach. Sie entdeckten die Geister alter Gefährten hinter den Balken, in der Halle, auf dem Treppenabsatz. Sie verabschiedeten sich von ihren Vorfahren. Es gab geheime Winkel, die ein Lebewohl verdienten, Ritzen und Spalten, die sie vor dem Aufbruch noch einmal markieren wollten, Verstecke, deren Lage sie sich einprägten.
Grauenhafte Geräusche rissen die Mäuse aus dem Schlaf. Ein Scheppern und Klirren drang aus der Halle und die Treppe herauf. Junge Nacktlinge waren ins Haus eingedrungen. Sie zerbrachen die Fensterscheiben und polterten mit Nagelstiefeln durch die Flure und Zimmer. Sie rissen Türen aus den Angeln, entfachten auf dem Boden eines Schlafzimmers ein kleines Feuer, demolierten das Treppengeländer und schleuderten Glühbirnen wie Handgranaten durch die Luft. Zwei Stunden lang herrschte ein unbeschreiblicher Tumult im Haus. Dann verschwanden die Nacktlinge auf ihren Fahrrädern.