Die Mäuse beschlossen, den Tunnelausgang zu nehmen, anstatt einfach zur Tür hinauszugehen. Sie wollten durch Tunnel-gräberins Labyrinth marschieren und es ihr zum Abschied einmal richtig zeigen. Trödler konnte diesen Plan nicht gutheißen, sagte aber nichts, da er sich von der Spitzmaus verabschieden wollte, mit der er bis zum Unentschieden gekämpft hatte.
Und so nahmen die Mäuse mit einer Außenmaus an der Spitze Abschied vom Ort ihrer Geburt und dem Heim ihrer Vorfahren, um das Gelobte Haus zu suchen.
Die Spitzmaus hatte von dem bevorstehenden Aufbruch erfahren und erwartete sie mit gesenkter Nase im Labyrinth.
Trödler sprach sie an. »Leb wohl, Tunnelgräberin. Wir sind gekommen, um dir für deine Großzügigkeit zu danken. Ich meine, weil du uns dein Labyrinth zur Verfügung gestellt hast, als der Gasmacher kam.«
»Vergiß es«, meinte Tunnelgräberin knapp.
»Na gut«, sagte Trödler, der sich unbehaglich fühlte. »Vor allem ich wollte mich von dir verabschieden. Wir haben einen harten Kampf ausgetragen, und ich werde dich nicht vergessen.« Er nickte ihr zu und führte die Mäuse ins Mondlicht.
Eine nach der anderen defilierte an der schlechtgelaunten Spitzmaus vorüber. Manche grinsten, doch niemand wagte eine Bemerkung. Selbst die Totenköpfe waren angesichts der unberechenbaren und boshaften Natur der Spitzmäuse auf der Hut. Schließlich kam Gorm der Alte zu Tunnelgräberin. Er bildete die Nachhut.
Als er an ihr vorüberlief, sagte die Spitzmaus ruhig: »Geh zum Teufel!«
»Danke gleichfalls«, erwiderte Gorm, ohne sie anzusehen.
Und so brachen die Mäuse alle Brücken zum Haus hinter sich ab.
Vom Garten aus führte Trödler seine Nation zur Straße. Es war kalt, am Himmel standen blasse Sterne. Der Atem der Mäuse hing dampfend vor ihren Gesichtern. Hoffentlich fand Trödler für die Ruhepausen warme Löcher. Die Erde knirschte frostig, und die bereiften Gräser ragten wie kleine Speerspitzen empor.
Unterwegs kamen sie an dem Ort vorbei, an dem Stones Klo stand - oder besser: gestanden hatte, denn zu ihrer Überraschung war es verschwunden. Die jungen Nacktlinge hatten es umgeworfen und die Bretter im Obstgarten verstreut.
Stone selbst war noch da. Er wirkte verwirrt. Eigentlich hätte er schon seinen Winterschlaf halten sollen, doch der Schock hatte ihn wachgehalten. »Sie haben mein Versteck zerstört«, sagte er fassungslos zu Trödler. »Sie sind einfach gekommen und haben es zertrümmert.«
Trödler betrachtete den jetzt kahlen ehemaligen Standort des Monuments, in dessen Schatten Stone so lange gelebt hatte. Das große Bauwerk war ein Teil der Landschaft gewesen, und nun sah die Welt plötzlich ganz anders aus. Auch der Gestank hatte sich verzogen. Ohne ihn war Stones Heimat nicht mehr dieselbe. Die Haselmaus sah aus, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Du kannst mit uns kommen«, lud ihn Trödler ein, »auf unserer Reise in ein besseres Land.«
Stone schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Hier gehöre ich hin; außerdem muß ich erst einmal den Winter verschlafen.« Er schien ein wenig aufzuleben und fuhr fort: »Ich bin froh, daß ihr doch noch zur Vernunft gekommen seid. Zurück zur Natur, was? Ausgezeichnet! Gibt nichts Besseres als frische Luft. Nach draußen auf die Landstraße, was?«
Sein Blick schweifte über die Mäuseschar. »Du lieber Himmel, hier sind ja wirklich alle versammelt. Einfach jeder. Selbst der graue Gorm.«
»Auf das Grau kann ich verzichten«, knurrte der Alte.
»Und der Kleine Prinz«, meinte Stone kopfschüttelnd. »Der Kleine Prinz ist hier, und mein Klo ist verschwunden - ich verstehe die Welt nicht mehr ...«
Völlig verblüfft schauten sich die Mäuse um. »Kleiner Prinz? Wovon redet er bloß? Wo ist der Kleine Prinz?« Schließlich zuckten sie die Achseln.
»Der alte Knabe wird senil«, meinte Furz.
Dies schien der Wahrheit zu entsprechen, da Stone die Anwesenheit der Mäuse völlig vergessen und einen seltsamen Singsang angestimmt hatte. »Hallo, ihr Blumen, hallo, ihr Bäume, hallo, ihr Gräser .«
Und so marschierte die Kolonne weiter und überließ die alte Haselmaus ihrem Zwiegespräch mit der Natur.
Sie überquerten die Straße ohne Probleme, da sie am frühen Morgen wenig befahren war. Dann liefen sie eine Weile über den eisbedeckten Boden des Grabens, bis Trödler nach Norden auf ein kahles Feld abbog. Zum Schutz vor Raubvögeln hielten sie sich in einer Ackerfurche. Sie kamen nur langsam voran, weil ständig einige von ihnen stehen blieben, um gefrorene Körner vom Boden aufzuheben und zu fressen. Schließlich erreichten sie das Ende des Feldes und legten eine Pause ein.
Die Welt wirkte sehr friedlich, doch die Mäuse wußten, daß draußen im Mondlicht Füchse und Hermeline, Wiesel und Dachse mit hungrigen Mägen lauerten. Dies war die Zeit der mageren Nächte, in der alle Tiere ständig nach Nahrung suchten. Die Augen der Raubtiere waren schärfer, die Nasen überaus empfänglich, ihr Gehör arbeitete besser als sonst. Die Mäuse konnten nur auf ihr Glück vertrauen und hoffen, daß sie keinen umherstreifenden Mördern zum Opfer fielen.
Ein vorüberkommender Hase beäugte sie neugierig. Vermutlich wunderte er sich, warum so viele Mäuse an einem Ort versammelt waren. Sie beneideten ihn um seine langen Beine. Er brauchte sich nicht vor Füchsen zu fürchten, da er ihnen mit Leichtigkeit entwischen konnte. Tatsächlich richteten sich diese Hasen oft auf den Hinterbeinen auf, um ihrem Gegner anzuzeigen, daß sie ihn gesehen hatten. »Hallo, Fuchs, ich wollte dir nur sagen, daß ich hier bin. Du brauchst gar nicht erst näher zu kommen.« Was hätten die Mäuse darum gegeben, einmal so schnell laufen zu können!
Astrid vergaß alle Zurückhaltung und kuschelte sich an Iban. Niemand stieß sich an ihrer Zweisamkeit, nicht einmal Skrang. Iban selbst war insgeheim froh, daß sie sich nicht mehr verstecken mußten, denn damit waren auch die Tage der Erpressung durch die Bibliotheksmäuse vorüber. Er wollte einfach den Rest seiner Nächte mit Astrid verbringen.
»Komm doch näher«, drängte sie ihn. »Der Boden ist kalt und feucht. Machen wir ein Nickerchen. Wir sind leider keine jungen Hüpf er mehr. Die 13-K würden uns wohl kaum in ihre Reihen aufnehmen.«
Iban ließ es sich nicht zweimal sagen. »Die 13-K sind auch nicht mehr die jugendlichen Rebellen von einst. Sie gehen stark aufs mittlere Alter zu. Irgendwann wird einer von Ulfs Söhnen zu der Ansicht gelangen, daß sein Vater viel zu konservativ ist. Dann haut er ebenfalls ab und gründet eine eigene Rebellenbande, um seinen Vater herauszufordern.«
Sie zuckte belustigt mit den Schnurrhaaren. »Vermutlich hast du recht. Die Welt ist schon komisch, was?«
»Die Dinge wiederholen sich einfach«, meinte Iban.
»Los jetzt«, rief Trödler nach kurzer Zeit, »auf die Pfoten! Wir müssen bis Tagesanbruch tief in diesem Wald dort drüben sein. In Wäldern gibt es zwar Füchse, Hermeline und Dachse -wahrscheinlich auch Eulen -, dafür aber weniger Falken. Die meisten Falken fliegen nur im offenen Gelände.«
»Wunderbar«, bemerkte Gorm sarkastisch. »Dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen. Keine Falken, nur ein Dutzend anderer Räuber. Wirklich ausgezeichnet!«
In einem anderen Teil des Mäusezuges rappelte sich Furz gerade hoch. In den vergangenen zwei Stunden war er mehr gelaufen als in seinem ganzen bisherigen Leben. An verschiedenen Stellen war er wund, seine Muskeln schmerzten, in den Knochen zog es rheumatisch. Schweratmend setzte er sich wieder in Bewegung. Trotzdem sorgte er sich in erster Linie um seinen Gefährten.
Fusel blieb am Boden liegen, obwohl alle anderen bereits aufgestanden waren und Trödler folgten.
»Auf!« schrie Furz. »Wir kommen sonst nicht mit!«
»Kann nicht«, keuchte Fusel. »Zu viel getrunken.« Ihm rann eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich kann einfach nicht weiter.«
»Natürlich, du Trottel«, schalt ihn Furz, der es mit der Angst bekam.
Gorm der Alte, der die Nachhut der Kolonne bildete, rief: »Los, ihr mottenzerfressenen Kellermäuse, schwingt die Beine!