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Als ich hörte, was geschehen war, reiste ich sofort zu ihm. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Menschenmenge ich bei meiner Ankunft in Ellesmere Castle vorfand - Tanten und Onkel, Vettern und Basen jeden Grades waren wie die Aasgeier eingefallen, und der arme Leidende war belagert wie ein Fort. Vetter Wilfred versuchte die Pflegerin zu bestechen, Tante Marian saß in einem Stuhl bei der Tür und mußte jedesmal weggeschoben werden, wenn jemand das Krankenzimmer betreten oder verlassen wollte, Peter Forbes kletterte am Spalier in die Höhe und mußte von einem Diener und deinem demütigen Vetter - von mir - heruntergeholt werden.

Meine liebe Miß Peabody, ich lese in Ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch. Sie denken: Da schimpft ein Kessel den anderen schwarz, und Sie halten mich ebenso wie die anderen für einen Aasgeier. Natürlich haben Sie recht. Ich leugne es nicht, daß ich bestrebt bin, meine Position auf dieser Welt zu verbessern, wo immer es möglich ist. Ich bin kein Heuchler und gebe nicht vor, den alten Herrn geliebt zu haben, wenn er auch ein paar gute Eigenschaften hatte. Evelyn ist eine kleine Heilige, sie verzeiht und vergißt alles. Und nur eine Heilige hätte Großvater lieben können. Mir tat er leid. Oh, er tat mir ehrlich leid. Da lag er nun leidend und sterbend und hatte keinen Menschen um sich, der ihn liebte.

Meine Position war weit besser als die meiner Mitaasgeier, denn ich war der Erbe, und die Ärzte und Anwälte, die bei ihm waren, wußten es. Da er sich nicht bewegen und auch nicht sprechen konnte, benützte ich meine Autorität, die ganze Familie hinauszuwerfen. Ihre Flüche machten keinen Eindruck auf mich. Ich denke aber, daß die nun eingetretene Ruhe seine Erholung ermöglichte. Sehr zum Staunen der Ärzte stampfte er nach wenigen Wochen in seinem Zimmer herum, beschimpfte seine Pflegerin und warf seinem Diener das Eßgeschirr nach. Die Ärzte warnten ihn vor starken Gemütsbewegungen. Sie sagten, ein zweiter Schlaganfall werde mit Sicherheit tödlich sein.

Nach deiner Abreise, Evelyn, ließ er sofort seinen Anwalt kommen und machte ein neues Testament. Da hinterließ er dir fünf Pfund, damit du dir einen Trauerring kaufen konntest. Mich hatte er zum Erben eingesetzt - nicht aus Zuneigung, ganz gewiß nicht, sondern weil er die übrige Verwandtschaft noch viel mehr haßte und verachtete als mich. Als er sich wieder erholt hatte, hielt ich ihm einmal vor, wie schlecht er dich behandelt habe. Ich hatte gewiß nichts gegen ein Erbe einzuwenden, aber es war ja genug da für zwei, und ich konnte meinen Reichtum nicht genießen, wenn ich wußte, daß es dir schlecht ging.

Der alte Herr wurde wütend, und so konnte ich nicht mehr von dir sprechen, wenn ich nicht einen neuen Schlaganfall heraufbeschwören wollte. Dann deutete er an, ich solle abreisen, aber er war noch ziemlich schwach, und die Ärzte meinten, jemand müsse ihm ja die Besucher vom Leib halten. Das tat ich auch.

Ich glaubte schon, sein Zorn auf dich habe sich gelegt, als eines Nachmittags ... Nun ja, ich war nicht im Haus, weil ich auch einmal ein bißchen Vergnügen brauchte, denn ich hatte sehr trübsinnige Wochen hinter mir. In meiner Abwesenheit verließ Großvater das Bett und trieb die Diener an, deine Sachen zu packen, nicht nur deine Kleider und die paar Schmucksachen, die er dir geschenkt hatte. Nichts blieb zurück. Er stürmte durch deine Zimmer und warf alles, was er fand, in die Kisten. Als ich nach Hause kam, war alles verpackt, verschlossen und von einem örtlichen Fuhrmann auf den Weg gebracht. Nichts mehr im ganzen Schloß erinnerte an dich. Und da brach er dann zusammen. Das ganze Haus war in Aufruhr, Ärzte kamen an, das Hauspersonal war hysterisch, dazu schneite es, was vom Himmel herabkommen mochte; es war eine Szene wie in einem trübsinnigen Roman. Es war schrecklich!

Da hat sich Großvater dann nicht mehr erholt. Er versuchte noch ein paarmal zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, er wolle dir verzeihen und wünschte deine Rückkehr. Ich hoffe, daß du das glaubst.«

Evelyn hatte den Kopf gesenkt. Dicke Tränen fielen auf ihre im Schoß gefalteten Hände.

»Eine sehr rührende Geschichte«, bemerkte ich trocken. »Evelyn, du verdirbst dein Kleid. Auf Satin sieht man jeden Wassertropfen.«

Evelyn holte tief Atem und tupfte sich die Augen ab. Lucas hatte die Frechheit, mir zuzuzwinkern. Das übersah ich. »Nun, Evelyn, ein Problem ist damit gelöst«, sagte ich. »Die Motive unseres Besuchers werden verständlich. Dieses Individuum hatte von der Erholung, nicht aber von dem fatalen Zusammenbruch gehört. Die Hoffnung stirbt ja nie aus.«

»Du brauchst nicht so taktvoll zu sein«, erwiderte Evelyn. »Lucas weiß genau, wen du meinst. Ich will ihn nicht kränken, indem ich über .«

»Du kränkst mich, wenn du je wieder auf die Vergangenheit zurückkommst. Sie ist abgeschlossen - außer ich habe das Glück, einem gewissen Individuum eines Tages an einem abgelegenen Ort zu begegnen ... Aber laß mich meine Erzählung zu Ende bringen. Du hast die traurigen Kapitel gehört, nun folgen die angenehmeren Dinge.

Nachdem die Trauerfeierlichkeiten für unseren Vorfahren abgeschlossen waren, machte ich mich auf die Suche nach dir. Und da bin ich nun und warte auf deine Einwilligung, unser Vermögen zu teilen. Ich kann es nicht mein Vermögen nennen, doch ich möchte, daß du Titel, Leben und Namen mit mir teilst.«

Er lehnte sich zurück und strahlte uns beide an wie ein jugendlicher Weihnachtsmann. Das war ein großzügiges Angebot, und es fiel mir nicht leicht, mein Urteil über den jungen Mann nicht umzustoßen. Trotzdem ging mir die Bedeutung des letzten Satzes erst nach einer Weile auf. »Sir«, rief ich, »soll das etwa ein Heiratsantrag sein?«

»Ich denke, anders lassen sich meine Worte nicht auslegen«, erwiderte er breit lachend.

Evelyn starrte uns entgeistert an, versuchte ein paarmal zu sprechen, räusperte sich einige Male und stotterte schließlich:

»Lucas, d-das kann ich n-nicht glauben. Du kannst d-doch nicht m-meinen .«

»Warum nicht?« Er nahm ihre Hände in die seinen. »Evelyn, wir sind doch füreinander bestimmt. Vernunft und - wie ich hoffe - Zuneigung sollten uns zusammenführen. Ich weiß, daß du mich nicht liebst, daß dein Herz zaghaft und verwundet ist. Aber laß mich dir eine Zuflucht in meinem Herzen bieten! Laß mich dich lehren, mich so zu lieben, wie ich dich verehre!«

Seine dunklen Augen waren so voll Zärtlichkeit, daß ich nicht begriff, wie ein Mädchen ihm je widerstehen konnte. Aber Evelyn war doch stärker, als ich gedacht hatte.

»Lucas«, erwiderte sie leise, »dein Angebot bewegt mich zutiefst, und mein Leben lang will ich dich für deinen Edelmut verehren. Aber heiraten kann ich dich nicht. Deinetwegen nicht, Lucas, denn dich trifft die Kritik der Leute noch härter als mich. Ich will niemals heiraten. Ich trage ein Bild in mir .«

»Aber doch nicht dieser elende ...!« rief Lucas empört.

»Nein, ganz gewiß nicht.«

»Das erleichtert mich. Liebste Evelyn, ich bin aber nicht entmutigt, denn eine so schnell aufgeflammte Zuneigung kann nicht von Dauer sein. Ich werde sie schon überwinden. Da du keine Eltern hast, wende ich mich an Miß Peabody und bitte um die Erlaubnis, so, wie es sich gehört, um dich werben zu dürfen.« Er legte dazu eine Hand aufs Herz und lachte mich an. Ich lachte ein wenig säuerlich zurück.

»Mein lieber Herr, ich kann Sie nicht daran hindern, die Gesellschaft Ihrer Kusine zu genießen, doch Sie werden sich beeilen müssen. Wir reisen nämlich morgen früh ab, den Nil entlang. Sie haben also nur ein paar Stunden Zeit, Ihren Anzug aufbügeln zu lassen.«