Der Wind war gut, und wir kamen ausgezeichnet vorwärts. 167 Meilen südlich von Kairo sind die Gräber von Beni Hassan aus der Zeit der Zwölften Dynastie, die chronologisch jener der Pyramiden von Gizeh folgt. Der Reis begriff meine Erklärung sicher nicht, doch wir hielten in Beni Hassan.
Das Dorf war typisch. Kleine, mit Stroh gedeckte Erdhügel, die wahllos über die Ebene verstreut waren, dienten als menschliche Behausungen. Gekocht wird in einem von solchen Erdhügeln umgebenen Innenhof; neben der Feuerstelle gibt es einen Stein, mit dem Korn zerquetscht wird, und ein paar Krüge, das ist alles. Die Frauen spinnen, mahlen Korn oder nähren ihre Kinder, die Männer sitzen untätig da. Kinder, Hühner, Hunde und ab und zu eine Ziege, alles schmutzig und mit unzähligen Fliegen bedeckt, balgen sich da. Sind die Kinder nicht von Krankheiten entstellt, so sind sie trotz allen Schmutzes sehr hübsch.
Als wir in das Dorf kamen, wurden wir sofort umringt. Hände streckten sich nach Bakschisch aus oder boten uns gestohlene Antiquitäten oder deren wertlose Nachahmungen zum Kauf an. Man sagt, diese Fälschungen stammten aus europäischen und amerikanischen Lieferungen.
Evelyn schrie auf, als ihr ein unbeschreiblich gräßlicher Gegenstand unter die Nase gehalten wurde. Erst sah das Ding aus wie ein Bündel trockener brauner Stecken, die in Lumpen gewickelt waren, doch dann erkannte mein kritischer Blick eine Mumienhand, die am Gelenk abgetrennt war. Zwei zierliche Ringe steckten noch an den Fingern, und das machte den Anblick noch gespenstischer.
Viele Reisende kaufen solche Dinge, ja sogar ganze Mumien, die ohne jede Ehrfurcht vor ihrem Alter und ohne Berücksichtigung ihres unschätzbaren kulturellen Wertes außer Landes gebracht werden. Michael mußte diesen Leuten erklären, daß wir nicht daran dächten, solche Sachen zu kaufen.
Wir begaben uns zu den Gräbern. Ich hatte während der Reise meine Zeit nicht vergeudet, denn ich hatte mich mit Samuel Birchs kleinen Büchern über ägyptische Hieroglyphen beschäftigt, so daß ich nun in der Lage war, Evelyn den einen oder anderen Namen zu buchstabieren. Es ist ein sehr erregendes Gefühl, diese Zeichen auf zerbröckelten Fels gemalt zu sehen, statt gedruckt auf den Seiten eines Buches, und dann auch noch ihren Sinn zu erkennen.
Die Gräber waren auch für Gelegenheitstouristen außerordentlich interessant. Die Wandbilder stellten auf fröhliche Art das dar, was diese Toten zu Lebzeiten zu tun liebten und was auf ihren Besitztümern gearbeitet wurde. Sklaven bliesen Glas und machten Goldschmiedearbeiten, hüteten die Herden, arbeiteten auf den Feldern oder töpferten.
Später wurden dann viele dieser herrlichen Gräber von habgierigen und unverständigen Eingeborenen geplündert. Teile der Wandbilder wurden an Antiquitätenhänd-ler verschachert. Die Touristen waren auch kaum besser als die Ägypter. Ich beobachtete einen Amerikaner, der einfach ein Stück Stein mitnahm, das ein entzückend gemaltes, ganz junges Kalb zeigte. Ich schrie den Mann an, doch er erklärte mir seelenruhig, wenn er es nicht mitnähme, täte es ein anderer, und es sei ja genug da.
Emerson hatte mit seinen Klagen schon recht gehabt, das sah ich immer deutlicher. Evelyn sprach nie von Walter, doch wenn ich einmal den Namen erwähnte, leuchteten ihre Augen. Sie schien also sehr häufig an ihn zu denken.
Ich dachte oft an den älteren Bruder, wenn auch auf eine andere Art als Evelyn an den jüngeren. Mir kam der Gedanke an ihn wie ein Moskitostich vor, an dem man ständig kratzen mußte. Ich weiß, das ist kein eleganter Vergleich, doch seine Kritik war ja auch immer sehr beißend gewesen. Als ich jedoch immer klarer sah, daß die Touristen und die Einheimischen wie Vandalen in diesen geheiligten Altertümern hausten, hätte ich am liebsten die ganze Altertumsabteilung des Landes übernommen. Oh, ich hätte für Ordnung gesorgt!
Inzwischen kannte ich die Bootsmannschaft ganz gut. Der Koch war ein ältlicher, schwarzhäutiger und zahnloser Mann aus Assuan, der auf zwei kleinen Kohlenöfchen die köstlichsten Mahlzeiten zauberte. Habib und Abdul, die beiden jungen Diener, hätten direkt aus einem alten ägyptischen Wandbild stammen können. Sie sahen sehr gut aus, waren groß, schlank und breitschultrig. Besonders Habib hatte ein sehr ansteckendes Lachen, wenn ich mit ihm arabisch sprach. Die anderen Männer konnte ich nicht leicht voneinander unterscheiden; sie waren milchkaffeefarbig bis schwarz und trugen gestreifte Gewänder und weiße Turbane.
Die Ägypter haben für jedermann einen Necknamen.
Maspero hatte uns von einem weißbärtigen Freund erzählt, den sie >Vater des Bartes< nannten. Mir verliehen sie den Titel Sitt Hakim, das heißt Doktorin. Ich verdiente ihn, denn täglich hatte ich Wunden zu verbinden, Kratzer zu desinfizieren und kleine Krankheiten zu heilen, doch zu einer Amputation wurde ich niemals gerufen. In den Dörfern brachten mir die Frauen ihre kranken Kinder. Als wir Beni Hassan verließen, hatte ich fast meinen ganzen Vorrat an Augenmedizin aufgebraucht, aber auch das war nur ein Tropfen Wasser in der Wüste.
So vergingen die Tage eigentlich recht abwechslungsreich und interessant. Evelyn war eine sehr angenehme Gesellschafterin und gute Freundin. Sie genoß Schönheit, wo sie sich bot, nahm auf meine Stimmungen Rücksicht, war heiter, beklagte sich nie und zeigte sich sehr aufgeschlossen für die Geschichte, deren Zeugen wir vor Augen hatten. Ich glaube, wir hätten viele Jahre lang wie Schwestern zusammen reisen oder die Behaglichkeit Englands genießen können, doch mir war ja klar, daß ich damit nicht rechnen konnte. Ob sie nun ihren Vetter heiratete oder nicht, war egal, denn heiraten würde sie eines Tages, und Lucas' Beharrlichkeit war nicht zu unterschätzen. Also beschloß ich, ihre Gegenwart so lange zu genießen, wie es möglich war.
Nach Beni Hassan war der nächste interessante Ort ein Dorf namens Haggi Quandil, auch Tell-el-Amarna genannt, die Stadt des Ketzerkönigs Khuenaten. Manche Archäologen vermuten, daß es kein König, sondern eine Königin war, und wenn man Bilder dieses Herrschers sieht, entdeckte man eindeutig feminine Züge.
Verwirrend waren die Überlegungen zur religiösen Überzeugung dieser Persönlichkeit. Khuenaten hatte die alten ägyptischen Götter aufgegeben und verehrte dafür die Sonne, Aten. Betete er wirklich nur diesen einzigen
Gott an? Und bestand zwischen seinem Monotheismus und dem der Hebräer irgendeine Verbindung? Moses war am Hof von Ägypten erzogen worden, und so erschien es mir möglich, daß der Glaube der Hebräer von der Religion eines altägyptisehen Pharaos abstammte. Evelyn war sehr erschüttert, als ich ihr gegenüber diese Idee entwickelte. »Er hat die königliche Stadt Theben aufgegeben«, erklärte ich ihr, »und seine neue Hauptstadt seinem Gott geweiht. Lepsius entdeckte auf den Felsen rund um Khuenatens Stadt zahlreiche Inschriften und interessante Gräber. Die Malereien hier unterscheiden sich grundlegend von den sonstigen Grabgemälden. Wenn der Wind günstig ist, könnten wir dort einen Besuch machen. Was meinst du dazu, Evelyn?«
Evelyn, die gerade an einer Skizze arbeitete, legte den Bleistift weg. Sie zeichnete nämlich sehr hübsch und hatte unterwegs schon viele Skizzen gemacht. Jetzt schaute sie zum Ufer hinüber.
»Wie heißt dieses Dorf, Amelia?« fragte sie.