Sie saß im Bett. Travers, meine Dienerin, gab ihr Suppe ein. Beiden schien dies keinen Spaß zu machen. Travers ist eine rundliche Person mit einem freundlichen Gesicht und der Seele einer alten Jungfer. Da ich es nicht dulde, wenn sich jemand über das, was ich tue, beklagt, trug sie eine gekränkte Miene zur Schau. Nur so konnte sie ihre Gefühle ausdrücken.
»Das genügt jetzt, Travers«, sagte ich. »Du kannst gehen. Aber mach die Tür ordentlich hinter dir zu.«
Als wir allein waren, musterte ich meinen Schützling und war mit dem, was ich sah, durchaus zufrieden. Das Flanellnachthemd war viel zu groß für das zierliche Per-sönchen. Sie brauchte Kleider, und es mußten hübsche, nette Sachen sein, also von der Art, die ich nie hatte tragen können. In Blaßgrün, Rosa und Lavendel mußte sie entzückend aussehen. Wie hatte dieses Mädchen nur in einen so trostlosen Zustand geraten können? Sie bemerkte, daß ich sie musterte und senkte die Augen, doch dann sprach sie; ihre Stimme klang wie die einer wohlerzogenen jungen Dame, und die Worte verstand sie ausgezeichnet zu wählen.
»Ich bin Ihnen zu unbeschreiblichem Dank verpflichtet, aber seien Sie versichert, Maiam, daß ich Ihr gutes Herz nicht ausnützen werde. Ich habe mich jetzt erholt. Wenn Sie Ihre Magd anweisen, mir meine Kleider zu bringen, werde ich Sie sofort von meiner Anwesenheit befreien.«
»Ihre Kleider ließ ich wegwerfen«, antwortete ich. »Die Mühe des Waschens und Bügelns lohnte sich nicht mehr. Sie müssen sowieso bis morgen im Bett bleiben. Morgen lasse ich eine Näherin kommen. Am nächsten Freitag geht ein Schiff nach Alexandria. Eine Woche müßte genügen. Sie werden einiges einkaufen müssen. Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen, lasse ich Ihre Sachen holen.«
Ihr Gesicht drückte die verschiedensten Gefühle aus; erst Empörung, dann Mißtrauen, schließlich Entsetzen. Da sie mich nur offenen Mundes anstarrte, fuhr ich ziemlich ungeduldig fort: »Ich nehme Sie als Reisegefährtin mit nach Ägypten. Miß Pritchett wurde krank. Ihr wollte ich zehn Pfund jährlich bezahlen. Natürlich werde ich Sie für die Reise ausstatten. In einem Flanellnachthemd können Sie schließlich nicht auf Reisen gehen.«
»Nein«, gab das Mädchen zu, »aber ...«
»Ich bin Amelia Peabody, eine alte Jungfer, unabhängig und reise zu meinem Vergnügen. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«
»Nein, ich weiß alles«, antwortete das Mädchen ruhig. »Ich war nicht ganz ohnmächtig, als Sie zu meiner Rettung kamen, und erkenne Herzensgüte auf den ersten Blick. Aber, meine liebe Miß Peabody, Sie wissen nichts über mich. Ich könnte ja vielleicht . kriminell oder haltlos sein.«
»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Ich treffe zwar meine Entschlüsse sehr rasch, doch niemand kann mir Dummheit vorwerfen. Ich denke nur schneller und gründlicher als die meisten Leute und habe Menschenkenntnis.«
Der Mund des Mädchens zitterte, und an einem Mundwinkel erschien ein Grübchen. »Ich bin nicht das, was Sie denken«, sagte sie leise, »doch ich bin Ihnen meine Geschichte schuldig. Habe ich sie erzählt, so werden Sie alles Recht haben, mich hinauszuwerfen.«
»Na, dann fangen Sie an. Ich werde sie dann schon beurteilen.«
Das Mädchen begann zu sprechen:
»Ich bin Evelyn Barton-Forbes. Ich war noch ein kleines Kind, als meine Eltern starben, und aufgezogen wurde ich von meinem Großvater, dem Earl of Ellesmere. Sie scheinen den Namen zu kennen. Er ist alt und ehrenhaft. Mein Großvater wird von vielen als geizig gescholten, obwohl er sehr reich ist. Menschenfreund war er nie, doch mich behandelte er gütig. Er nannte mich immer sein Lämmchen. Vielleicht war ich das einzige menschliche Wesen, zu dem er je freundlich war. Er verzieh mir sogar, daß ich ein Mädchen und nicht der ersehnte männliche Erbe bin.
Ich bin das einzige Kind des ältesten Sohnes meines Großvaters, kann aber Titel und Besitz nicht erben, weil ich ein Mädchen bin. Als mein Vater starb, war mein Vetter Lucas Hayes der nächste männliche Verwandte.
Ich hatte Lucas immer gern, und er tat mir leid, weil Großvater immer so unfair zu ihm war. Er sagte, er möge Lucas wegen seiner ausschweifenden und zügellosen Gewohnheiten nicht, doch ich denke, hier handelt es sich vorwiegend um Gerüchte. Aber mein Vetter ist eben seines Vaters Sohn, und deshalb mag er ihn nicht. Großvaters älteste Tochter ging nämlich mit einem Italiener durch. Mein Großvater ist jedoch ein Brite bis auf die Knochen und mag besonders die romanischen Völker nicht. Er hält sie für gerissen, betrügerisch und falsch. Meine Tante ließ sich also vom Conte d'Imbroglio di An-nunciata entführen. Großvater enterbte sie und tilgte ihren Namen aus der Familienbibel. Noch auf ihrem Totenbett wartete sie vergeblich auf ein Wort des Trostes und der Verzeihung. Er sagte, der Conte sei kein Edelmann, sondern ein Betrüger und Mitgiftjäger, doch ich bin überzeugt, daß dies nicht zutrifft. Sicher hatte der Conte wenig Geld, doch sein Titel war echt. Lucas hielt es, als er volljährig wurde, für klug, seinen Namen zu ändern. Er nennt sich jetzt Lucas Elliot Hayes und gab den italienischen Titel auf.
Eine Zeitlang ging es ganz gut, und ich glaubte sogar, mein Großvater dachte an eine Heirat. Lucas würde ja den Titel und den Grundbesitz erben, doch ohne das Privatvermögen meines Großvaters war der Besitz nur eine Last. Großvater ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sein Vermögen ich erben würde. Es kam jedoch nicht soweit.
Großvater warf Lucas hinaus, als er von dessen bösen Streichen erfuhr, und ich war darüber erleichtert, da ich Lucas nicht liebte, obwohl ich ihn gern hatte. Ich war nämlich sentimental und der Meinung, eine Heirat ohne Liebe sei ein Unding. Und zu meinem Unglück verliebte ich mich.
Meinem Großvater gefielen meine Zeichnungen, und auch Lucas hatte sie immer sehr gelobt. Deshalb hielt mein Großvater nach einem Zeichenlehrer Ausschau. So kam Alberto in mein Leben.
Damals erschien mir sein Gesicht engelhaft, heute kommt es mir eher wie das eines Teufels vor. Er sprach mit ungemein weicher Stimme ein ziemlich fehlerhaftes Englisch. Kurz gesagt, er verführte mich und überredete mich zur Flucht mit ihm. Ich verließ also den alten Mann, der mich liebevoll erzogen hatte, gab meine moralischen Grundsätze und meine ganze Zuneigung für meinen Großvater auf. Ich kann jetzt von Alberto nur voll Verachtung reden, doch noch mehr Vorwürfe mache ich mir selbst. Ich verdiente mein elendes Los.
Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt. Ich nahm meine wenigen Schmuckstücke mit, die mir mein Großva-ter geschenkt hatte. Der Erlös daraus reichte nicht sehr lange. Alberto bestand darauf, daß wir in einem Stil reisten, der meinem Stand entsprach. Als wir jedoch in Rom ankamen, war die Unterkunft, die wir da bezogen, sicher in keiner Weise standesgemäß, denn mein Geld war zu Ende. Alberto wich mir aus, wenn ich fragte, was er zu tun gedächte, und wegen unserer Heirat fand er auch immer Ausreden. Als guter Katholik könne er sich nicht mit einer Ziviltrauung abfinden, sagte er, und ich war ja nicht katholisch. Oh, wie naiv ich doch war!
Vor einer Woche brach dann meine Welt vollends zusammen. Alberto war die meiste Zeit des Tages weg, und kam er nach Hause, war er betrunken und mißlaunig. Eines Morgens fand ich mich dann in einer ärmlichen, kalten Dachkammer allein. Er hatte alles mitgenommen, was irgendwie von Wert war. Mir hatte er nur einen Brief zurückgelassen.