Ich konnte natürlich auch auf der Dahabije bleiben und Evelyn mit Lucas nach Kairo zurückschicken, damit sie Hilfe holten. Ich konnte die beiden aber nicht gut allein reisen lassen, und Evelyn würde sich sowieso weigern, mich zu verlassen. Und Emerson würde wie ein Schakal heulen, wenn man ihn in seinem männlichen Stolz verletzte, das heißt, in Kairo für ihn um Hilfe bat.
Nun, ich nahm das Risiko auf mich, diesen Vorschlag zu machen. Alle protestierten außerordentlich heftig, nur der eine nicht, von dem ich es ganz bestimmt erwartet hatte - Emerson. Er kniff die Lippen zusammen und schwieg düster.
Lucas sah wieder ein Ziel in Reichweite. »Ich kann nur dann reisen, wenn ... Also unter ganz bestimmten Voraussetzungen, um Evelyns Ruf nicht zu schädigen«, erklärte er nachdrücklich. Evelyn wurde rot und schaute weg. Seine Absicht war nur allzu klar. Wenn sie als offizielles Brautpaar reisten mit dem Ziel, nach ihrer Ankunft sofort zu heiraten, so war das zwar auch unschicklich, aber die englische Kolonie in Kairo wäre nicht schockiert.
Walter begriff natürlich auch sofort und zog ein langes Gesicht. Emerson stopfte seine Pfeife und paffte dicke Wolken. Dabei musterte er uns mit bösen Blicken.
»Das ist alles absurd!« rief ich und sprang auf. »Der Tag vergeht, und ich bin erschöpft.«
»Natürlich, Amelia«, antwortete Evelyn sofort. »Du mußt ausruhen.«
Emerson nahm die Pfeife aus dem Mund. »Wirklich, Peabody, das sieht Ihnen gar nicht gleich, so unentschlossen zu sein. Ihr benehmt euch alle wie Kinder, die vor einem Schatten davonlaufen.«
»Schatten! War es etwa ein Schatten, der mit Felsen nach Ihnen warf? Oder der Walter verwundete?«
»Bei mir war es ein Steinschlag, und bei Walter ein . unglücklicher Zufall«, erwiderte Emerson und schaute Lucas bedeutungsvoll an. »Kommen Sie, Peabody, und benutzen Sie Ihren Kopf. Bis jetzt liegt kein Beweis dafür vor, daß die unglücklichen Vorkommnisse reiner Bosheit entsprangen, und die Ohnmacht von Lord Ellesmere in der vergangenen Nacht - nun, das Fleisch ist schwach, man ist müde, erregt, hat ein bißchen zuviel Wein .«
Lucas wurde rot vor Zorn. »Das ist nicht wahr!« rief
er.
»Nun, dann müssen wir an übernatürliche Kräfte der Mumie glauben«, antwortete Emerson trocken. »Damit bin ich aber nicht einverstanden. Ich suche nach einer vernünftigen Erklärung, und wenn mir niemand ein Motiv nennen kann . Nun, Lord Ellesmere meinte, die Dorfbewohner wollen uns vertreiben, weil sie eine wertvolle Entdeckung gemacht haben. Ich lasse mich nicht vertreiben. So einfach ist das.«
Die Logik dieses Mannes beeindruckte mich sehr, und trotzdem fühlte ich noch immer einiges Unbehagen. »Was schlagen Sie dann vor?« fragte ich.
»Wir gehen zum Angriff über. Bisher haben wir uns nur verteidigt, und das wollen unsere Gegner ja. Wenn die Dorfbewohner ein Grab finden können, dann können wir das auch. Morgen beginnen wir mit der Suche und werden uns dazu der Hilfe Ihrer Bootsmannschaften versichern. Das wird nicht einfach sein, weil die Dorfbewohner sie beschwatzten, daß auf uns ein Fluch liege. Mit Schmeichelei, gutem Zureden und ein wenig Bestechung bringen wir sie schon auf unsere Seite. Wir brauchen Männer zur Bewachung der Damen und für eine ausführliche Suchaktion. Nun, ist der Plan in Ordnung?«
Ich hatte nichts zu sagen und fand den Plan gut, doch zugegeben hätte ich es nicht. Die anderen waren beeindruckt, Evelyn sogar deutlich erleichtert. »Dann besteht also keine Gefahr für uns?« fragte sie.
»Nein, meine Liebe«, antwortete Emerson. »Wenn es Ihnen recht ist, verbringen wir diese Nacht eben in einem Raum, doch ich meine, das ist gar nicht nötig. In Ordnung? Peabody, gehen Sie zu Bett, Sie brauchen unbedingt Ruhe. Seit zehn Minuten haben Sie keine sarkastische Bemerkung mehr gemacht. Also müssen Sie außerordentlich erschöpft sein.«
In meinem Kopf herrschte große Verwirrung, und das erlaube ich diesem Körperteil sonst niemals. Ich war körperlich und seelisch richtiggehend ausgepumpt, so daß ich in einen von wilden Träumen zerrissenen unruhigen Schlaf fiel. Lichtstrahlen und tiefste Dunkelheit wechselten einander ab. Und es war dann auch ein Lichtstrahl, der mich aufweckte. Die Sonne ging eben unter; mein Laken und meine Haare waren schweißfeucht, und ich mußte mich aus den Tiefen des Schlafes emporkämpfen. Und dann hörte ich die Stimme: »Nicht bewegen, um alles in der Welt nicht bewegen!«
Am Fuß meines Feldbettes lag ein dickes, braunes Seil. Das bewegte sich plötzlich. Ein flacher Kopf hob sich, und zwei kleine, starrende, funkelnde Kreise ließen mich nicht los.
Es war eine Schlange. Ich wagte mich nicht zu rühren.
Emerson stand unter der Türöffnung und ließ den Reptilienkopf nicht aus den Augen, der sich nun wiegend vor- und rückwärts schaukelte. Seine Hand bewegte sich unendlich langsam zur Tasche. Ich war vor Entsetzen gelähmt, wollte schreien, wagte es jedoch nicht. Ein Nebel schien sich über meine Augen und mein Gehirn zu legen.
Dann sah ich, wie Emersons Arm sich schnell bewegte, es gab einen Blitz, einen rollenden Donner, und ich glaubte, der Himmel falle über mir ein. Von da an wußte ich nichts mehr.
Ich war nicht lange bewußtlos; als ich aufwachte, konnte ich mich jedoch an nichts erinnern. In meinen Ohren dröhnte es noch, mein Kopf schwamm, aber irgendwie fühlte ich mich so behaglich wie ein Kind im Arm der Mutter. Dann berührte etwas mein Gesicht, meine Lippen, die geschlossenen Augen, meine Wangen; es war wie ein Fingerdruck, nur wärmer und weicher, und diese Berührung hatte eine unglaubliche Wirkung auf mich. Ich öffnete die Augen nicht, ich schloß sie noch fester, weil ich zu träumen glaubte. Ähnliche Empfindungen hatte ich bisher ausschließlich in Träumen erlebt. Warum sollte ich sie für eine Wirklichkeit aufgeben, die nicht, sogar bei weitem nicht, so vergnüglich war? Dann überlegte ich mir: Vielleicht hat mich doch die Schlange gebissen; ich bin vergiftet und im Delirium ...
Schreie und rennende Füße brachen dann den Zauber. Ich wurde zurückgelegt, geschüttelt, dann sogar ein paarmal - wie würdelos! - kräftig auf die Wangen geschlagen. Ich machte die Augen auf. Emersons Gesicht, die Maske eines Nachtmahrs, hing über mir, daneben erkannte ich Evelyns weißes Gesicht. Sie schob Emerson weg und umklammerte mich.
»Oh, Amelia, meine allerliebste Amelia, wir hörten den Schuß. Was ist geschehen? Bist du verwundet? Oder stirbst du?«
»Sie ist weder verwundet, noch liegt sie im Sterben, sie ist nur damenhaft in Ohnmacht gefallen«, erklärte Emerson, und darüber mußte ich mich schon wieder ärgern. »Peabody, zum erstenmal habe ich erlebt, daß Sie sich wie eine richtige Dame benehmen. Das muß ich in meinem Tagebuch eigens vermerken.«
Mir fiel leider keine beißende Antwort ein - ausnahmsweise. Ich funkelte ihn nur an. Dann tat Walter einen Schrei und hob die Schlange hoch.
»Radcliffe«, stöhnte er, »das ist ja eine Haubenkobra, eine der giftigsten Schlangen in Ägypten. Hast du geschossen? Bist du sicher, daß sie nicht vor dem Schuß gebissen hat?«
Evelyn untersuchte sofort meine Beine nach einer Schlangenbißwunde, doch ich schob sie weg. Mir ging es gut, denn Emersons Grobheit hatte meinen kämpferischen Instinkt wieder geweckt. »Mach doch kein Theater, Evelyn«, fauchte ich sie an. »Dieses Biest hat viel zu lange überlegt, ob es mich beißen soll oder nicht, und da hatte Emerson Zeit genug, zu schießen. In der gleichen Zeit hätte ich zehn Schlangen erschossen.«