»Es ist aber unklug, Lucas, wenn Sie noch einmal Wein trinken«, wandte ich ein. Die Nacht war kühl, und ich zog meinen Schlafrock enger um mich.
»Nun, ich bin nicht aus Eisen, und ich wollte mich nur für das stählen, was getan werden muß. Kommen Sie, leisten Sie mir Gesellschaft.«
»Und ich werde wohl nicht eingeladen?« meldete sich Emerson. »Oder störe ich etwa eine persönliche Unterhaltung?«
»Seien Sie nicht so dumm«, erwiderte ich, doch meine Worte gingen in einem großen Gähnen unter. »Ach, bin ich müde. Ich möchte nur wissen, weshalb ich trotzdem nicht schlafen kann«, sagte er.
»Ich kann es auch nicht«, meinte Emerson. »Übrigens, ich übernehme jetzt die Wache. Mir macht es nichts aus. Manchmal schlafe ich ganze Nächte überhaupt nicht. Komisch, jetzt habe ich das Gefühl, als sollte ich niemals wieder schlafen.«
Da wußte ich, daß etwas ganz und gar nicht stimmte, und Emerson wußte es auch. Was er sagte, war eine Lüge. Sein schwarzes Haar war nämlich naß, denn er hatte Wasser über den Kopf geschüttet. Um sich wach zu halten?
»Schon gut«, meinte Lucas ziemlich verdrossen. »Wenn ich schon zu nichts nütze bin, kann ich die Flasche auch allein austrinken. Gute Nacht also. Ich schlafe unten im Zelt, und Sie, mein ritterlicher Freund Emerson, können mich ja mit einem Schrei wecken, falls etwas Unerwartetes geschieht.«
Dann wurde ich plötzlich an der Schulter gerüttelt. »He, Peabody, aufwachen! Verdammt noch mal, haben Sie denn nicht begriffen, daß wir unter Drogen gesetzt wurden?«
»Drogen?« wiederholte ich verständnislos.
»Ja, Drogen. Seit über einer Stunde kämpfe ich gegen den Schlaf. Haben Sie ein Mittel, das die Wirkung von Laudanum aufhebt?«
Ich dachte nach. »Riechsalz. Es ist ziemlich stark.«
»Hm. Immer noch besser als gar nichts. Holen Sie's, aber schnell!«
Evelyn schlief viel zu fest, und ich konnte sie nicht aufwecken. Ich hielt mir das Riechsalz unter die Nase und spürte, wie es mich belebte. Dann eilte ich zu Emerson zurück, der mich anschielte und am Felsen lehnte. Ich drückte ihm das Fläschchen in die Hand.
»Und jetzt sagen Sie mir, was Sie fürchten«, drängte ich.
»Ich habe allerhand Unfug gedacht«, knurrte er. »Mir fehlt ein Schlüssel zu der ganzen Geschichte, und ich vermute, den haben Sie, Peabody.«
Er schaute mich an, erst verständnislos, dann entgeistert. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich konnte nämlich bis zum Ende des Pfades schauen, und dort bewegte sich etwas. Ich hörte ein leises Stöhnen.
Ich wußte aber, daß dieses Stöhnen nicht von der Mumie kam, denn es klang viel menschlicher und drückte Schmerz aus. Ich sprang auf, aber Emerson war noch schneller als ich, und wir rannten den Pfad entlang. Ich hielt den Atem an, als Emerson ein Stück weiter in die Dunkelheit ging, um dem Stöhnen zu folgen. Als ich um die nächste Felsecke bog, sah ich ihn am Boden knien neben einem liegenden Mann, den ich kannte und - Gott möge mir verzeihen - fast vergessen hatte. Es war unser verschwundener Diener Michael.
»Guter Gott!« rief ich. »Ist er tot?«
»Nein, aber ich fürchte .«
Michael trug das verblichene, blau-weiß gestreifte Gewand vom Tag seines Verschwindens, doch jetzt war es zerrissen und schmutzig. Ich tastete nach dem Puls und fand ein verschwollenes und blutiges Gelenk.
»Jemand hat ihn gefangengehalten, das sind Spuren von Stricken«, sagte Emerson. »Wir müssen ihn sofort versorgen. Er ist sehr schwach.« Emerson nahm ihn auf die Arme und trug ihn hinauf zum Grab.
Ehe wir um die Felsecke bogen, ertönte der gräßliche, schrille Angstschrei einer Frau. Und da stand auch die Mumie. Der blinde, bandagierte Kopf war uns zugewandt, und in den Stummelarmen hatte sie Evelyn. Kein Wunder, daß sie in eine tiefe Ohnmacht gefallen war.
Emerson war mit dem ohnmächtigen Michael vor mir und versperrte mir den Weg. Mir sollte dieses Monster nicht entkommen! Aber ich fühlte mich wie in Treibsand gefangen, denn jede Bewegung kostete mich eine unbeschreibliche Anstrengung. Doch dann passierte praktisch alles auf einmal.
Lucas kam aus dem Zelt und behauptete, Evelyns Schrei habe ihn geweckt. Er bewegte sich eigentlich erstaunlich flink, und deshalb stieß er mit uns zusammen. Emerson fand am Felsen Halt, doch ich wurde umgerissen. Die Mumie erkannte ihren Vorteil, beugte die Knie und sprang vom Sims. Fast hätte ich erwartet, daß das Ding Flügel bekäme und davonflöge. Aber es rannte, für eine Mumie sogar erstaunlich schnell.
»Laßt sie nicht entkommen!« schrie ich. Das heißt, ich glaubte es geschrien zu haben, doch Emerson versicherte mir, ich hätte nur Unverständliches gegurgelt. Mir wickelten sich die Röcke um die Beine, und so mußte ich mich auf Lucas verlassen.
»Ich werde Evelyn retten!« rief er und rannte davon.
Walter war eben aus seiner Schlafkammer gekommen. Auch er schien schwer geschlafen zu haben, doch in einer Mischung aus Wut und Entsetzen rannte er hinter Lucas drein. Ich versuchte ihm zu folgen, doch Emerson versetzte mir einen Tritt gegen das Schienbein, weil er keine Hand frei hatte.
»Peabody, behalten wenigstens Sie klaren Kopf«, stöhnte er. »Kommen Sie mit, Sie müssen bei Michael bleiben.«
Der Rat war ausgezeichnet, wenn auch nicht leicht auszuführen. Jedenfalls war es so, daß ich die Mumie bestimmt nicht fangen konnte, wenn es den jungen Männern nicht gelang. Ich rannte also hinter Emerson drein, der schließlich den armen Michael erstaunlich behutsam auf sein Bett legte. Er verlor keine Zeit und wandte sich sofort wieder der Tür zu. Ich griff nach der Lampe, um sie anzuzünden. Da hörte ich von draußen, unmittelbar neben der Tür, einen Schuß, dann ein Stöhnen, und gleichzeitig sah ich, wie Emersons hohe Gestalt in sich zusammensackte.
12. Kapitel
Ich ließ die Lampe fallen, vergaß meinen verletzten Diener, sogar Evelyn, und rannte dorthin, wo ich Emerson hatte stürzen sehen.
Dann griff eine Hand nach meinem Fußknöchel, und ich fiel auf Emerson. Er stöhnte vor Schmerz. Meine Hand fand sein Gesicht und ertastete eine klebrige Flüssigkeit. »Mein Gott, Emerson, Sie sind verwundet!« rief ich.
»Vielleicht hören Sie endlich auf, mich zu kitzeln«, erwiderte er gereizt. »Lassen Sie mich los, Peabody. Mich hat doch nur ein Stein getroffen.«
»Oh, aber der Schuß galt Ihnen. Was wollen Sie da draußen? Kommen Sie doch herein.«
Er kroch zum Eingang. »Das war ein Warnschuß. Solange wir nicht hinausgehen, sind wir in Sicherheit. Bitte, reichen Sie mir Walters Hemd, es liegt auf dem Bett. Und meinen Spazierstock, bitte. Danke. Und jetzt ...«
Ein zweiter Schuß belohnte seine Demonstration, als er das Hemd über den Stock legte und nach draußen schob. Emerson holte es zurück. »Er ist zwischen den Felsen«, sagte er leise.
»Er? Wer?«
»Sie sind ja noch dümmer als ein Dorfesel. Wer? Sie müssen doch allmählich wissen, wer es ist. Ich wußte es schon seit einiger Zeit, nur das Motiv war mir unklar. Was, zum Teufel, treibt den Burschen an, sich auf diese
Weise eine Frau zu suchen? Daß er so verrückt ist, hätte ich nicht gedacht.«
»Oh, ein Motiv gibt es natürlich«, antwortete ich. »Allmählich sehe ich klarer ... Nein, das ist unmöglich! Anfangs verdächtigte ich auch Lucas, doch er war nicht da, sondern kam erst zu uns, nachdem die Mumie zum erstenmal erschienen war. Und er wußte auch nicht, daß wir hier .«
»Peabody, geben Sie Michael Wasser. Ich fürchte, sehr viel mehr können wir für ihn nicht tun, und Ihre Medikamente sind in Ihrer Kammer.«