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Lois McMaster Bujold

Im Schatten des Wolfes

Kapitel Eins

Der Prinz war tot.

Der König aber lebte noch, und so zeigte sich in den Gesichtern der Männer oberhalb des Burgtors keine unziemliche Freude, lediglich verstohlene Erleichterung, befand Ingrey. Und auch die verschwand, als die Wachen beobachteten, wie Ingreys Trupp mit lautem Hufklappern durch den Torbogen auf den engen Hof geritten kam. Die Wachen erkannten Ingrey und wussten auch, wer ihn geschickt hatte.

Im Dunst dieses trüben Herbstmorgens hing der Schweiß klamm und klebrig unter Ingreys Lederwams. Das Kopfsteinpflaster im Burghof und die kalkweißen Mauern, die ihn umschlossen, schienen die Kälte förmlich einzufangen. Der leicht bewaffnete Kurier hatte nur zwei Tage gebraucht, um die Neuigkeiten von Burg Keilerkopf, dem Jagdsitz des Prinzen, bis zur Halle des Geheiligten Königs in Ostheim zu tragen. Ingrey und seine Leute waren ungleich schwerer gerüstet; trotzdem hatten sie denselben Weg in Gegenrichtung in fast derselben Zeit geschafft. Ein Stallknecht eilte herbei und nahm die Zügel, und Ingrey schwang sich aus dem Sattel. Als er die Schwertscheide zurechtrückte, ließ er seine Finger einen kurzen, beruhigenden Augenblick lang auf dem kühlen Schwertgriff ruhen.

Ritter Ulkra, der Haushofmeister des verstorbenen Prinzen Boleso, trat um den Bergfried herum, von wo aus er offenbar Ingreys Trupp beim Heranreiten beobachtet hatte. Er war ein stämmiger Mann und für gewöhnlich unerschütterlich; heute jedoch wirkte er atemlos vor Sorge und Hast. Ulkra verbeugte sich. »Willkommen, Lord Ingrey. Darf ich Euch einen Trunk bringen lassen oder Speise?«

»Nicht für mich. Aber kümmert Euch um meine Männer.« Er wies auf das halbe Dutzend Berittene, das ihm folgte. Der Truppführer, Ritter Gesca, nickte ihm dankbar zu, und Ulkra überließ die Männer und Pferde der Obhut der Dienstboten.

Ingrey folgte Ulkra die kurze Treppe hinauf bis zum Hauptportal aus dicken Holzbohlen. »Was habt Ihr bisher unternommen?«

Ulkra senkte die Stimme. »Auf Anweisungen gewartet.« Besorgnis furchte sein Gesicht. Bolesos Männer waren selbst unter den günstigsten Umständen nicht für ihre Unternehmungslust bekannt. »Nun, wir haben die Leiche an einen kühlen Ort gebracht. Wir konnten sie nicht da lassen, wo sie ursprünglich lag. Und wir haben die Gefangene in Verwahrung genommen.«

In welcher Reihenfolge sollte er diese unangenehme Besichtigung beginnen? »Ich will zuerst den Leichnam sehen«, entschied Ingrey.

»Ja, Herr. Hier entlang. Wir haben eine der Speisekammern dafür ausgeräumt.«

Sie durchquerten eine voll gestellte Halle mit einem tiefen Kamin aus Naturstein, dessen Feuer bereits heruntergebrannt war. Die wenigen glühenden Kohlen, die halb aus der Asche ragten, ließen den Raum auch nicht behaglicher wirken.

Ein struppiger Jagdhund, der im Schatten neben der Feuerstelle an einem Knochen nagte, knurrte sie an. Dann ging es eine Treppe hinunter und durch eine Küche, wo Koch und Küchenjungen verstummten und sich duckten, als sie vorbeigingen, bis in einen kühlen Raum, der durch zwei schmale Fenster weit oben in den grob behauenen Wänden nur schwach ausgeleuchtet wurde.

Diese kleine Kammer war gänzlich leer geräumt, abgesehen von zwei Böcken und einigen darüber gelegten Planken, auf denen der reglose Umriss des verhüllten Leichnams auszumachen war. Unwillkürlich schlug Ingrey das heilige Zeichen, berührte mit einer Hand Stirn, Lippe, Nabel, Leiste und Herz, jeweils eine heilige Stelle für jeden der fünf Götter. Tochter-Bastard-Mutter-Vater-Sohn. Und wo wart Ihr, als das hier geschah?

Während sich Ingreys Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, schluckte Ulkra und sagte: »Der Geheiligte König — wie hat er die Botschaft aufgenommen?«

»Schwer zu sagen«, meinte Ingrey mit diplomatischer Zurückhaltung. »Siegelbewahrer Lord Hetwar schickt mich.«

»Selbstverständlich.«

Aus der Reaktion des Haushofmeisters konnte Ingrey nur das Offensichtliche herauslesen, nämlich dass Ulkra froh war, die Verantwortung für diese Angelegenheit an einen anderen abzutreten. Mit Unbehagen schlug der Haushofmeister das fahle Tuch zurück, das den Körper seines toten Herrn bedeckte.

Prinz Boleso von Hirschendorn war das jüngste lebende Kind des Geheiligten Königs — der jüngste Sohn des Geheiligten Königs, verbesserte Ingrey sich sogleich in Gedanken. Boleso war immer noch ein junger Bursche, obwohl er schon vor einigen Jahren das volle Mannesalter erreicht hatte — groß, muskulös, mit dem vorspringenden Kinn seiner Familie und einem kurzen, braunen Vollbart. Das dunkelbraune Haar war wirr und blutverklebt. Seine mitreißende Tatkraft war nun erloschen, und ohne sie fehlte dem Gesicht die frühere Anziehungskraft. Ingrey fragte sich, wie er es jemals gut aussehend hatte finden können.

Er trat vor, umfasste den Schädel mit beiden Händen und untersuchte die Wunde. Wunden. Der zerschmetterte Knochen unter den Haaren gab beidseitig unter dem Druck seiner Daumen nach. Zwei tiefe Risse in der Kopfhaut darüber waren schwarz vor geronnenem Blut.

»Welche Waffe hat diese Wunden geschlagen?«

»Der Kriegshammer des Prinzen. Er hing an dem Gestell mit der Rüstung des Prinzen in seinem Schlafgemach.«

»Wie … unerwartet. Auch für ihn.« Düster sann Ingrey über das Schicksal des Prinzen nach. Wie er von Hetwar wusste, war Boleso während seines kurzen Lebens abwechselnd von Eltern und Dienern verhätschelt und vernachlässigt worden. Die angeborene Überheblichkeit seines Standes mischte sich mit einer gefährlichen Gier nach Ehre, Ruhm und Anerkennung. Der Hochmut — oder vielleicht verzweifelter Ehrgeiz? — war zuletzt maßlos gewachsen und gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten. Und was aus dem Gleichgewicht kommt, das stürzt.

Der Prinz trug eine kurze, offene Robe aus bestickter Wolle, mit Pelz gesäumt. Er musste das blutbespritzte Gewand bei seinem Tode getragen haben. Sonst nichts. Auf seiner bleichen Haut waren keine weiteren frischen Verletzungen zu finden.

Der Haushofmeister hatte angemerkt, dass sie hier auf weitere Anweisungen gewartet hatten. Und damit hatte er untertrieben, befand Ingrey: Die Gefolgsleute des Prinzen waren offenbar so sehr gelähmt von den erschütternden Ereignissen, dass sie den Leichnam noch nicht einmal gewaschen oder angekleidet hatten. Schmutz hatte sich in den Hautfalten gesammelt … nein, kein Schmutz. Ingrey fuhr mit dem Finger eine Furche entlang, über das kühle Fleisch, und blickte argwöhnisch auf die Farbschlieren: trübes Blau und Blütenstaubgelb, und dort, wo sie sich mischten, ein kränkliches Grün. Farbe, Schminke, buntes Pulver? Das dunkle Pelzfutter war ebenfalls leicht mit Farbe verschmiert.

Ingrey richtete sich auf, und sein Blick fiel auf etwas, das er zuerst für einen Pelzhaufen an der gegenüberliegenden Mauer gehalten hatte. Er trat näher und kniete nieder.

Es war ein toter Leopard. Nein, eine Leopardin, verbesserte er sich, als er das Tier herumdrehte. Das Fell fühlte sich unter Ingreys Händen weich und seidig an. Er fuhr mit dem Finger über die kalten, geschwungenen Ohren, die weißen Schnurrhaare, das dunkle Fleckenmuster auf goldenem Grund. Dann nahm er eine der schweren Pfoten auf, spürte die ledrige Sohle und die dicken, elfenbeinernen Krallen. Sie waren gestutzt. Eine rote Seidenschnur war dem Tier um den Hals geknüpft und schnitt tief ins Fell. Das Ende der Schnur war abgeschnitten. Ingreys Haare stellten sich auf, doch er unterdrückte die Reaktion.

Ingrey schaute auf. Ulkra, der ihn beobachtete, blickte noch düsterer und ausdrucksloser drein als zuvor.

»Das ist kein Geschöpf unserer Wälder. Wo in aller Welt hatte er das her?«

Ulkra räusperte sich. »Der Prinz erwarb es bei Kaufleuten aus Darthaca. Er wollte hier bei der Burg eine Menagerie anlegen. Oder das Tier vielleicht zur Jagd abrichten. So sagte er.«

»Wie lange ist das her?«