Ich wusste nicht, was ich tun sollte, oder was er wohl tun konnte. Bolesos Männer waren Dummköpfe. Ich habe ihnen nichts erzählt, und niemand fragte.«
»Eure Verteidigung … das könnte Eure Verteidigung sein!«, warf er in plötzlichem Übereifer ein. »Die Raserei des Leopardengeistes hat den Prinzen getötet, nicht Ihr. Ihr wart von dem Tiergeist besessen. Das alles ist ein Unfall gewesen.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Nein«, widersprach sie. »Ich habe es Euch doch gerade gesagt. Der Leopard kam erst zu mir, als Boleso schon im Sterben lag.«
»Ja, aber Ihr könntet es andersherum erzählen. Es gibt niemanden, der Euch widersprechen könnte.«
Sie blickte ihn gekränkt an.
Ich fürchte, darauf müssen wir später noch einmal zurückkommen. Ingrey machte eine müde Geste. »Also gut. Und dann …?«
»In dieser Nacht, in meiner Zelle, hatte ich äußerst lebhafte Träume. Sonnige Wälder, kühle Täler. Ich wälzte mich mit anderen jungen Kätzchen in goldfarbenem Gras. Sie waren gefleckt und weich, doch sie hatten scharfe Zähne. Fremde Männer. Netze, Käfige, Ketten, Halsbänder. Eine Schiffsreise, dann eine Fahrt mit einem Wagen. Mehr Menschen, grausam oder freundlich. Einsamkeit. Es kamen keine Worte in diesen Träumen vor. Sie bestanden bloß aus Gefühlen und Bildern und starken Witterungen. Ein ganzer Schwall von Gerüchen, ein neuer Erdteil voller Düfte.
Zuerst glaubte ich, ich würde wahnsinnig, aber dann kam ich damit zurecht. Diese Kammer war auf gewisse Weise auch nur ein anderer Käfig; grausame und freundliche Menschen brachten Nahrung und machten sauber. Es war vertraut. Beruhigend.
In der zweiten Nacht träumte ich wieder den Leopardentraum. Aber diesmal …« Ihre Stimme zitterte. Wurde fester. »Diesmal fühlte ich eine Präsenz. Im dunklen Wald war nichts zu sehen, aber die Düfte waren wundervoll, weitaus schöner als jedes Parfüm. Jeder gute Geruch von Forst und Feld im Herbst. Äpfel und Wein, Fleisch am Spieß, knisternde Blätter und klarer blauer Himmel. Ich roch die herbstlichen Sterne und wollte aufschreien ob ihrer Schönheit. Der Geist des Leoparden streckte sich voller Freude, wie ein Hund, der seinen Herrn begrüßt, oder eine Katze, die sich an die Rocksäume ihrer Herrin drückt. Er schnurrte und buckelte und gab eifrige Laute von sich.
Danach schien der Geist des Leoparden ruhiger zu sein, nicht länger verängstigt oder ungestüm. Seither liegt er zufrieden da und wartet. Nein, er ist mehr als zufrieden — freudig. Ich habe keine Ahnung, worauf er wartet.«
»Eine Präsenz«, wiederholte Ingrey. »Kam ein … glaubt Ihr, es war ein Gott, der in der Dunkelheit zu Euch kam?«
Zweifelte er daran? »Strahlend« hatte Ingrey sie genannt, und er hatte es mit einem Sinn wahrgenommen, den er nur allzu gern verleugnete — und der nichts mit gewöhnlichem Sehen zu tun hatte. Selbst in diesen ersten, verwirrenden Augenblicken hatte er mehr darin erkannt als eine rein äußerliche Schönheit.
Doch mit einem Mal wurde Ijadas Gesicht grimmig, und sie stieß zwischen den Zähnen hervor: »Sie kam nicht zu mir, sie kam zu der verwünschten Katze. Ich bettelte darum, dass diese Präsenz zu mir käme. Aber das tat sie nicht.« Ihre Stimme wurde langsamer. »Vielleicht konnte sie es nicht. Ich bin keine Heilige, die bereit wäre, einen Gott in sich aufzunehmen.«
Ingrey harkte mit unruhigen Fingern durch das Moos. Seine aufgeplatzte Kopfhaut blutete endlich nicht mehr in seine Augenbrauen. »Wie es heißt, haben die alten Wealdländer durch ihre Tiergeister auch mit den Göttern gesprochen. Das hört man allerdings nicht von den quintarischen Geistlichen.«
Ijada presste die Zähne zusammen und blickte ihn an. Das Sengen in ihren Augen ließ ihn zurückzucken. Erst jetzt, und nur in diesem kurzen Augenblick merkte er, wie viel Entsetzen sie von Anfang an hinter ihrem beherrschten Auftreten verborgen gehalten hatte. »Verflucht, Ingrey, Ihr müsst es mir erzählen, Ihr müsst reden, sonst werde ich tatsächlich noch wahnsinnig. Wie seid Ihr zu Eurem Wolf gekommen?«
Sie fragte nicht aus Neugier, getrieben von der Lust am Klatsch. Es war das verzweifelte Bedürfnis, mehr über das eigene Schicksal zu erfahren! Und was hätte er selbst nicht vor so langer Zeit für einen erfahrenen Mentor gegeben, für einen Ratgeber, der ihm in der ersten Verwirrung hätte sagen können, wie er weitermachen sollte? Oder auch nur für einen gleichfalls verwirrten Gefährten, jemanden, der seine Erfahrungen teilte und der ihm vertraute, anstatt ihn zu verleugnen oder verrückt, befleckt oder verdammt zu nennen. Und all die Dinge, die er nicht einmal einer mitleidigen Seele hätte anvertrauen können, hatte Ijada selbst erlebt!
Es fühlte sich immer noch so an, als würde er mühsam Eimer um Eimer aus dem Brunnen seiner Erinnerung schöpfen, mit einem Seil, das ihm die Hände versengte. Er knirschte mit den Zähnen und begann:
»Ich war ungefähr vierzehn. Das alles stürzte ohne Warnung auf mich ein. Man brachte mich ohne Vorbereitung zu der Zeremonie. Mein Vater war schon seit einigen Tagen oder Wochen wegen etwas beunruhigt gewesen, aber er hatte mit niemandem darüber reden wollen. Er stiftete einen Tempelzauberer zu dem Ritus an. Ich weiß nicht, wer die Wölfe einfing, oder wie. Der Zauberer verschwand direkt danach — ob aus Angst, weil er das Ritual verpfuscht hatte, oder weil er uns vorsätzlich betrogen hatte, fand ich nie heraus. Es ging mir damals auch nicht gut genug, um Nachforschungen anzustellen.«
»Ein Zauberer?«, griff sie seine Worte auf und lehnte sich gegen einen gewaltigen Baumstamm. »Ich habe bei Boleso keinen Zauberer bemerkt. Er müsste ihn schon versteckt gehalten haben. Und wenn Boleso selbst von einem Dämon befallen war, so habe ich keine Anzeichen dafür gesehen. Wie auch? Man kann es eben nicht wahrnehmen, es sei denn, man wäre von den Göttern berührt oder selbst ein Zauberer.«
»Nein, man hätte im Tempel …« Ingrey verstummte. »Im Tempel von Ostheim hätte man gemerkt, wenn er sich einen Dämon eingefangen hätte. Dort muss es Leute geben, die feinfühlig genug dafür sind. Doch wenn er erst in jüngster Zeit davon befallen wurde, seit er im Exil lebt … dann ist er vielleicht noch niemandem begegnet, der die Gabe hatte, den Dämon zu erkennen.«
Doch was auch immer mit Boleso gewesen war, es musste schon angefangen haben, bevor er seinen Diener erschlagen hatte.
»Ich habe keine Ahnung, welche Kräfte ihm sein persönlicher Tierpark verliehen hat«, meinte Ijada. »Ich erkenne jetzt Dinge, die ich nicht mit meinen Augen sehe. Der Leopard scheint mir eine bestimmte Art von Gespür oder Wahrnehmung zu gewähren, aber«, sie ballte enttäuscht die Faust, »nicht durch Worte. Warum unterstützt Euch Euer Wolf nicht auf die gleiche Weise?«
Weil ich seit mehr als zehn Jahren damit beschäftigt bin, ihn zu beschneiden und zu fesseln. Und ich dachte inzwischen, ich wäre in Sicherheit, aber Eure Fragen ängstigen mich mehr als der Wolf in mir. »Ihr habt behauptet, da wäre etwas, ein anderer … Geruch, nicht ich oder mein Wolf, sondern etwas anderes.«
Sie blickte ihn unglücklich an. Zwei Falten bildeten sich zwischen ihren Augenbrauen, als suche sie nach Worten für etwas, das sich mit Sprache allein nicht beschreiben ließ. »Es scheint, als könne ich Seelen riechen. Oder der Leopard kann es und gibt es bruchstückhaft an mich weiter. Ich rieche Ulkra und weiß, dass ich ihn nicht fürchten muss. Aber einige andere Männer aus Bolesos Gefolge — ich weiß, dass ich ihnen besser aus dem Weg gehen sollte. Eure Seele ist wie gespalten: Da seid Ihr, und etwas darunter. Etwas Dunkles, Altes, Verstaubtes. Es rührt sich nicht.«
»Mein Wolf?« Aber sein Wolf war ein Jungtier gewesen.