»Ich … vielleicht. Aber da ist noch ein dritter Geruch. Er umschlingt Euch wie eine schmarotzende Kletterpflanze. Es hat Ranken und Wurzeln in Euren Geist geschlagen, um sich selbst zu ernähren, und pulsiert vor Euren Säften. Es flüstert. Ich denke, es ist ein Zauber oder ein Bann.«
Für einen Moment schwieg Ingrey und sah an sich herunter. Wie konnte sie unterscheiden, was in ihm war? Sein Wolfsgeist war sicherlich auch eine Art Schmarotzer. »Ist es immer noch da?«
»Ja.«
Seine Stimme klang erstickt. »Dann könnte ich im nächsten unachtsamen Moment wieder versuchen, Euch umzubringen.«
»Vielleicht.« Sie kniff die Augen zusammen und weitete die Nüstern, als suche sie eine Wahrnehmung, die nichts mit den Sinnesorganen des Körpers zu tun hatte. Ebenso aussichtslos wie der Versuch, mit den Händen zu sehen oder mit den Ohren zu schmecken … »Solange es nicht ausgejätet wird.«
Seine Stimme wurde noch leiser. »Warum lauft Ihr nicht fort? Ihr solltet fliehen.«
»Versteht Ihr denn nicht? Ich muss zum Tempel von Ostheim. Ich muss Hilfe suchen. Und Ihr bringt mich so schnell dorthin, wie es nur möglich ist.«
»Die Geistlichen waren mir nie eine Hilfe«, stellte Ingrey verbittert fest. »Sonst wäre ich nicht immer noch heimgesucht. Jahrelang habe ich mich abgemüht — den Rat von Theologen eingeholt, von Zauberern, sogar von Heiligen. Ich bin den ganzen Weg nach Darthaca gereist, um dort einen Heiligen des Bastards aufzusuchen, der angeblich Dämonen aus der Seele von Menschen vertreiben und damit abtrünnige Zauberer entmachten kann. Doch selbst er konnte den Wolfsgeist nicht von mir lösen. Weil, so erklärte er mir, der Wolf aus dieser Welt kommt und nicht aus der anderen. Und hierüber hat sogar der Bastard keine Macht, auch wenn er über eine Unzahl Unheil stiftender Dämonen gebietet und sie nach seinem Willen zusammenrufen oder entlassen kann.
Wenn sogar die Heiligen keine Hilfe gewähren können, muss die gewöhnliche Tempelobrigkeit erst recht nutzlos bleiben. Und schlimmer als nutzlos, eine Gefahr! Der Tempel von Ostheim ist das Werkzeug der Mächtigen, und wie es aussieht, habt Ihr die Mächtigen verärgert.«
Sie musterte ihn eindringlich. »Wer hat Euch diesen Bann auferlegt? Muss es denn jemand Mächtiges gewesen sein?«
Er machte den Mund auf und schloss ihn wieder. »Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß es nicht. Es verschwimmt alles, wenn ich darüber nachdenke. Wenn ich nicht gerade daran erinnert werde, vergesse ich zwischendurch sogar, dass ich Euch töten wollte. Eine kurze Unaufmerksamkeit von mir könnte tödlich für Euch enden.«
»Dann werde ich Euch daran erinnern«, kündigte sie an. »Es sollte leichter sein, jetzt, wo wir beide davon wissen.«
Als er den Mund aufmachte, um zu protestieren, hörte er ein krachendes Geräusch im Wald. Ein Mann rief: »Lord Ingrey?«, und ein anderer: »Ich habe beim Fluss Stimmen gehört … hier entlang …«
»Sie kommen!« Er kämpfte sich auf die Füße, schwankte vor Benommenheit und streckte flehend die Hände zu ihr aus. »Flieht! Ehe sie uns entdecken.«
»Etwa so?«, empörte sie sich und strich mit der Hand über ihr nasses Reitkleid, wies auf die bloßen Füße. »Bis auf die Knochen durchweicht, ohne Geld, ohne Waffen, ohne Hilfe soll ich also in den Wald laufen und … was? Mich von einem Bären fressen lassen?«
Sie reckte entschlossen das Kinn vor. »Nein. Boleso kommt aus Ostheim. Euer Bann kommt aus Ostheim. Dort müssen wir dem Übel auf den Grund gehen. Ich werde mich nicht davon abhalten lassen …«
»Irgendjemand dort will Euch töten, um Euer Schweigen sicherzustellen. Er hat es bereits versucht. Er würde vielleicht auch mich umbringen.«
»Dann solltet Ihr besser nicht darüber schwatzen, solange jedermann zuhören kann.«
»Ich schwatze nicht«, erwiderte er erbost, aber dann waren auch schon ihre Retter heran: zwei von Ingreys Leuten zu Pferd, die sich den Weg durchs Unterholz freischlugen. Jetzt wollte er mit ihr reden und konnte es nicht.
»Herr!«, rief Ritter Gesca froh. »Ihr habt sie gerettet!« Da Ijada diese Fehleinschätzung nicht korrigierte, tat Ingrey es auch nicht. Er wich ihrem Blick aus und ging seinen Leuten entgegen.
Kapitel Drei
Als sie wieder den Wagen erreichten, der am gegenüberliegenden Ufer auf sie wartete, war die Sonne bereits hinter den Baumwipfeln verschwunden. Im Licht der letzten, orangeroten Strahlen, die beinahe waagerecht zwischen den Zweigen einfielen, schlüpften Ingrey und seine Gefangene wieder in trockene Sachen und stiegen auf ihre Pferde, die man in der Zwischenzeit eingefangen hatte. Ingreys Kopf war notdürftig verbunden und pochte unter den darumgewickelten Stofffetzen. Seine Schulter wurde steif, aber er wollte nicht einmal über die Möglichkeit nachdenken, oben auf dem Wagen mitzufahren und auf Bolesos Sarg zu sitzen. Der Leichenzug stieg aus dem bewaldeten Tal empor und bewegte sich durch die zunehmende Dämmerung.
Von den Feldern und Wassergräben rings um sie erhob sich ein feuchter Dunst. Gerade wollte Ingrey die vordersten Reiter anweisen, Fackeln zu entzünden und den Weg zu beleuchten, da wurde auf der Straße vor ihnen ein fernes Leuchten sichtbar und zog sich schon bald zu einer langen Reihe munter dreinhüpfender Laternen auseinander. Kurz darauf ließ sich ein besorgtes »Hallo?« über verhaltenem Hufschlag vernehmen, und der Mann, den Ingrey am Morgen vorgeschickt hatte, um in Riedenswooge für Quartiere zu sorgen, löste sich aus der Gruppe der Neuankömmlinge und begrüßte ihn. Er hatte nicht nur Tempeldiener mit Lichtern mitgebracht, sondern auch ein frisches Gespann Pferde, fertig im Geschirr, mitsamt einem Stellmacher und entsprechenden Werkzeugen.
Ingrey sprach dem umsichtigen Krieger ein Lob aus, das aufrichtig von Herzen kam; kurze Zeit später setzte der Zug sich mit deutlich gesteigerter Geschwindigkeit wieder in Bewegung. Nach einigen Meilen sahen sie die Lichter von Riedenswooge vor sich, die über die Mauerkronen schimmerten und ihnen den Weg zu dem für sie offen gehaltenen Stadttor wiesen.
Riedenswooge war kein Dorf, sondern eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern und das Verwaltungszentrum eines Kirchenbezirks. Der Tempel am Markt war zwar groß, aber immer noch von einem sehr ländlichen Stil geprägt: eine fünfseitige hölzerne Halle, die innen wie außen mit kunstvoll verflochtenem Schnitzwerk verziert war, mit Pflanzen und Tieren und Szenen aus dem Leben von Heiligen. Das Dach war mit Holzschindeln gedeckt und wirkte neu — ohne Zweifel hatte es erst vor kurzem ein schlichteres Strohdach ersetzt. In jedem Fall aber war das Bauwerk mehr als ausreichend, um eine Nacht lang als Lagerhalle für Bolesos Sarg zu dienen.
Der amtierende Dechant von Riedenswooge eilte besorgt herbei, in Begleitung der meisten Mitglieder seines bürgerlichen Stadtrats, um die Aufbahrung des Sarges persönlich zu überwachen und mit Gebeten zu begleiten. Ein Haufen neugieriger Städter hatte sich dem Anlass entsprechend in festliche Gewänder gekleidet und gab einen recht passablen Chor zu seiner Begleitung ab. Einige der höher gestellten Bürger waren angetreten, um dem Sarg ihre Ehrerbietung zu erweisen. Ingrey bemerkte eine leichte Enttäuschung unter den Versammelten angesichts der Tatsache, dass der Sarg verschlossen war. Er nutzte seinen Verband als Entschuldigung und entfernte sich von den Feierlichkeiten.
Die Nebengebäude des Tempels bestanden in der Hauptsache aus schlichten Stadthäusern, die irgendwann einmal einer neuen Bestimmung zugeführt worden waren. Der Sitz des Dechanten teilte sich ein Gebäude mit der Notariatskanzlei des Kirchenbezirks. Bibliothek und Schreibstube befanden sich unter einem Dach mit der städtischen Mädchenschule, die von der Kirche der Frühlingstochter geführt wurde. Das Siechenhaus der Mutter war in den Hinterzimmern der städtischen Apotheke untergebracht.