Unter Ingreys Aufsicht wurde die Gefangene in die Obhut einer streng dreinblickenden Tempeldienerin übergeben; dann reichte er dem Stellmacher einige Münzen für seine Dienste. Er versicherte sich, dass Ställe für die Pferde bereitstanden und Quartiere für seine Männer, er bezahlte den Freisassen, der den Wagen gelenkt hatte, und seine Frau, und er besorgte auch den beiden und ihren Pferden eine Unterkunft für die Nacht. Als das alles getan war, begab er sich zu den Heilern und ließ sich die Kopfwunde nähen.
Zu seiner Erleichterung stellte Ingrey fest, dass die Heilkundige der Mutter in Riedenswooge nicht nur eine einfache Näherin oder Hebamme war: Sie trug auf der Schulter ihrer grünen Robe die Tresse einer ausgebildeten Schwester. Mit zielstrebiger Effizienz entzündete sie die Kerzen, wusch ihm den Kopf mit einer starken Seife und vernähte die Kopfhaut.
Ingrey saß auf ihrer Bank, starrte auf die Knie hinab und versuchte, unter den Stichen der Nadel und dem Zug des Garns nicht allzu sehr zusammenzuzucken. »Sagt mir«, meinte er, »gibt es irgendwelche Tempelzauberer in Riedenswooge? Oder Heilige? Oder mindere Heilige? Oder … oder auch nur irgendwelche Gelehrte?«
Sie lachte. »Aber doch nicht hier, Herr! Vor drei Jahren brachte ein kirchlicher Ermittler mal einen Zauberer hierher. Man hatte eine Frau aus der Gegend wegen dämonischer Magie angeklagt, aber der Ermittler fand keine Hinweise. Er hat den Klagestellern danach sehr deutlich die Meinung gesagt und ihnen die Reisekosten auferlegt. Ich muss sagen, der Zauberer war gar nicht so, wie ich mir einen solchen Mann vorgestellt hätte. Ein ältlicher und mürrischer Bursche im Weiß des Bastards — er wirkte nicht sonderlich angetan davon, dass man ihn im Winter hier hinaus aufs Land zitiert hatte. An meiner früheren Schule gab es auch einen minderen Heiligen der Mutter …« Sie seufzte bei der Erinnerung. »Ich wünschte, ich würde auch nur halb so viel von der Heilkunst verstehen wie er, mal ganz abgesehen von den weiteren Fähigkeiten, die ihm die Göttin verliehen hat. Was Gelehrte betrifft, so ist Maraya wohl das Beste, das wir zu bieten haben — abgesehen vielleicht vom Dechanten selbst. Sie leitet die Mädchenschule.«
Ingrey war enttäuscht, aber nicht überrascht. Aber ob Zauberer oder Heiligen oder wen auch immer — er musste jemanden finden, der mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet war und Lady Ijadas beunruhigende Behauptungen bestätigen oder widerlegen konnte. Und zwar bald.
»So«, stellte die Schwester mit einer gewissen Befriedigung fest und zupfte ein wenig an ihrem letzten Knoten. Ingrey biss die Zähne zusammen und ächzte nur leise. Das Schnippen einer Schere zeigte an, dass sein kleines Martyrium vorüber war, und mit einiger Mühe richtete er sich wieder auf.
An der Hintertür wurden Schritte und Stimmen laut, und die Schwester blickte sich um. Zwei Tempeldienerinnen, einer der Ratsherren, Lady Ijada und Ritter Gesca marschierten herein. Die Diener trugen große Stapel mit Bettzeug.
»Was soll das denn bedeuten?«, fragte die heilkundige Schwester mit einem misstrauischen Blick auf Lady Ijada.
»Wenn Ihr gestattet, Schwester«, erklärte der Ratsherr, »soll diese Frau heute Nacht hier untergebracht werden, da Ihr zurzeit ja keine Kranken beherbergt. Ihre Zofen und Aufpasserinnen werden im selben Gemach mit ihr schlafen, und ich nächtige im Vorraum vor der Tür. Dieser Mann hier«, er wies auf Ingreys Truppführer, »wird eine Wache abstellen, die in der Nacht von Zeit zu Zeit nach dem Rechten sieht.«
Die Schwester wirkte nicht sonderlich erbaut von diesen Aussichten. Die Ijada zugewiesenen Dienerinnen wirkten regelrecht verbissen.
Ingrey schaute sich um. Die Räumlichkeiten waren sauber genug, das gewiss, aber … »Hier?«
Lady Ijada lupfte ironisch die Augenbrauen. »Eurem Befehl nach soll ich nicht im Verlies verwahrt werden, wofür ich Euch sehr dankbar bin. Das Gästezimmer des Dechanten ist für Euch reserviert. Das Gasthaus ist voll mit Euren Männern und der Tempel angefüllt mit Bolesos Gefolge, die ihre Totenwache wohl eher durchschlafen als halten, würde ich sagen. Obwohl man bei einigen wohl eher von durchtrinken reden könnte. Aus irgendwelchen Gründen hat sich keine der ehrbaren Frauen von Riedenswooge bereit erklärt, mir Unterkunft zu gewähren. So bin ich also auf die Gastfreundschaft der Göttin angewiesen.« Ihr Lächeln wirkte wie eingefroren.
»Oh«, bemerkte Ingrey nach einem kurzen, nachdenklichen Augenblick. »Ich verstehe.«
Die Menschen hier kannten Boleso nicht. Für sie war er allenfalls in Gerüchten lebendig gewesen, ein strahlender Märchenprinz. Ijada musste ihnen … kaum wie eine Heldin vorkommen. Sie galt nicht nur selbst als gefährliche Mörderin, sondern ließ den Schatten eines Verrats auch auf jeden fallen, der ihr offen Hilfe zuteil werden ließ. Und das wird noch schlimmer werden, je näher wir an Ostheim herankommen.
Da Ingrey auch keine bessere Lösung anzubieten hatte, konnte er sich nur mit einem verlegenen Nicken von Ijada verabschieden. Die heilkundige Schwester geleitete ihn zur Tür.
»Und jetzt schlaft aber, Herr«, merkte sie noch an. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um einen letzten Blick auf ihre Arbeit werfen zu können, was ihre getrübte Laune offenbar wieder besser werden ließ. »Nach diesem Schlag auf den Kopf solltet Ihr lieber ein oder zwei Tage das Bett hüten.«
»Das werden meine Pflichten leider nicht zulassen.« Er verbeugte sich steif und ging über den Platz davon, um zumindest die erste Hälfte ihres Rates zu befolgen.
Der Dechant, nachdem er seine Gebete für Prinz Boleso abgeschlossen hatte, wartete schon auf ihn. Der Mann wollte über das weitere Zeremoniell mit ihm sprechen und anschließend die jüngsten Neuigkeiten aus der Hauptstadt erfahren. Er machte sich Sorgen wegen der schweren Krankheit des Geheiligten Königs. Ingrey, der selbst schon seit vier Tagen nichts Neues mehr mitbekommen hatte, entschied sich, beruhigend aufzutreten, in seinen Äußerungen jedoch vage zu bleiben.
Ingrey schätzte den Dechanten als einen eher bodenständigen Mann ein; einen aufrechten Hirten seiner Gläubigen und das Rückgrat dieses ländlichen Tempelbezirks. Aber er wirkte weder gelehrt noch scharfsinnig. Kein Mann, dem man Lady Ijadas derzeitige spirituelle Befindlichkeit anvertrauen konnte.
Oder die meine. Ingrey betraute den Geistlichen stattdessen mit den praktischen Fragen ihrer morgigen Abreise, entschuldigte sich mit einem Hinweis auf seine Verletzungen und floh in seine Schlafkammer.
Diese war klein, lag aber segensreicherweise ruhig und abgeschieden im Obergeschoss. Ingrey öffnete das Fenster und ließ die kühle Nachtluft gerade lange genug herein, um einen Blick auf die trüben Öllampen zu werfen, die auf einem eisernen Gestell unter ihm brannten und den düsteren Platz erhellten; dann blickte er zu den Sternen, die über ihm sehr viel strahlender glänzten. Schließlich zog er das Nachthemd an, das der Dechant für ihn hatte bereitlegen lassen. Behutsam ließ er den Kopf aufs Kissen sinken. Trotz seiner Schmerzen und aller drückenden Sorgen kam der Schlaf rasch.
Ingrey träumte von Wölfen.
Er hätte erwartet, dass die finsterste Stunde um Mitternacht die rechte Zeit für ein solches Ritual wäre, doch es war gerade Nachmittag, als sein Vater ihn in den Rittersaal der Burg bestellte. Trübes Licht sickerte durch die Fensterschlitze, die auf den plätschernden Birkbach hinausgingen, der 60 Fuß unter ihnen dahinfloss. Bienenwachskerzen brannten in den Wandleuchtern; ihr warmer, goldgelber Glanz vermischte sich mit dem grauen Tageslicht.
Lord Ingalef von Wolfengrund wirkte ganz ruhig, wenn auch beladen von der Anspannung, die ihn seit einiger Zeit umtrieb. Er begrüßte seinen Sohn mit einem beruhigenden Nicken und einem kurzen Lächeln, wie man es in letzter Zeit selten bei ihm gesehen hatte. Der junge Ingrey war aufgeregt, und die Angst schnürte ihm beinahe die Kehle zu. Der Tempelzauberer Cumril war ihm erst am gestrigen Abend vorgestellt worden. Jetzt stand er da, nackt bis auf einen Lendenschurz und die bloße Haut mit altertümlichen Symbolen beschmiert. Damals hatte Ingrey den Zauberer für alt gehalten, doch im Traum erkannte er, dass Cumril in Wahrheit noch ein junger Mann gewesen war.