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Mit dem Wissen um das Kommende, das sein Albtraum ihm verlieh, versuchte Ingrey, das Gesicht des Zauberers zu lesen: Plante er den kommenden Verrat? Oder war er einfach nur überfordert? Die Sorge in seinen Augen konnte sowohl das eine wie auch das andere andeuten, sogar beides zugleich.

Dann nahmen die Tiere die Aufmerksamkeit des jungen Ingrey gefangen, die schönen, gefährlichen Tiere, und er konnte danach kaum noch auf etwas anderes achten. Der grauhaarige Jäger, der sich um sie kümmerte, würde drei Tage nach Ingreys Vater ebenfalls an Tollwut zugrunde gehen.

Der alte Wolf war riesig, wild und stark. Muskeln spielten unter seinem dichten, grauen Fell, das von alten Narben und frischeren Verletzungen gezeichnet war. An einigen Stellen war sein Pelz noch blutverkrustet. Das Tier war unruhig. Es winselte und sträubte sich gegen die Leine des Jägers.

Es hatte Fieber, doch das wusste zu diesem Zeitpunkt keiner der Menschen. In ein paar Tagen hätte der Wolf schaumigen Speichel auf den Lefzen gehabt, und seine Krankheit wäre unübersehbar gewesen, doch im Augenblick war nur sein Unbehagen spürbar. Der alte Wolf versuchte, sich zu lecken, doch die Lederriemen um seine Schnauze behinderten ihn. Er knurrte dumpf unter seinen Fesseln.

Der junge Wolf war kaum mehr als ein Welpe. Er scharrte aufgeregt mit den Pfoten über den Steinboden und versuchte in offensichtlicher Furcht, sich so weit wie möglich von seinem größeren Artgenossen fern zu halten. Der Jäger hielt den Welpen für ängstlich, doch Ingrey würde später zu dem Schluss kommen, dass er die Krankheit gespürt hatte.

Davon abgesehen wirkte der junge Wolf überraschend zahm. Er reagierte so aufmerksam auf die Menschen wie ein gut abgerichteter Hund. Sein Fell war dunkel und wunderbar dicht, und die glänzenden Augen richteten sich sofort auf Ingrey. Er strebte schnüffelnd auf ihn zu und blickte in offenkundiger Bewunderung zu ihm auf. Ingrey mochte das Tier auf Anhieb. Er sehnte sich danach, mit den Händen durch das dunkle Fell mit den silberweißen Spitzen zu fahren.

Der Zauberer wies Ingrey und seinen Vater an, sich bis zur Hüfte zu entkleiden und einige Schritt voneinander entfernt und einander gegenüber auf dem kalten Boden niederzuknien. Er rezitierte einige Sätze in der Sprache des Alten Weald, mit sorgfältiger Betonung und vielen verstohlenen Blicken auf ein zerknittertes Stück Papier, das er unter seinem Gürtel hervorgeholt hatte. Quälenderweise schien der Sinn dieser Worte dicht an den Rändern von Ingreys Verständnis zu lauern und sich dem Zugriff seines Verstandes zu entziehen.

Auf Cumrils Zeichen hin zerrte der Jäger den alten Wolf zu Lord Ingalefs Arm. Dabei ließ er die Leine des jungen Wolfes los, und das Tier huschte sogleich auf Ingreys Schoß. Ingrey hielt den warmen, weichen Welpen an sich gedrückt, während dieser sich wand und eifrig versuchte, Ingreys Gesicht zu lecken. Er grub seine Finger in das Fell, streichelte und liebkoste das Tier. Das Geschöpf gab ein leises, zufriedenes Winseln von sich und stieß mit der Schnauze gegen Ingreys Ohr. Die raue Zunge des Welpen kitzelte auf der Haut, und Ingrey musste ein Lachen unterdrücken, das nicht zu diesem Anlass gepasst hätte.

Nach einem kurzen Murmeln über der Klinge reichte der Zauberer das geweihte Messer an Lord Ingalef weiter und trat hastig zurück, als der unruhige Wolf nach ihm schnappte. Das Tier setzte sich gegen Lord Ingalefs kräftigen Griff zur Wehr, und Ingreys Vater verlor den Halt. Der Maulkorb aus Lederriemen löste sich, und das Tier versenkte seine Zähne in Ingalefs Unterarm, zerrte und schüttelte den Kopf und riss an dem Fleisch. Mit einem unterdrückten Fluch und dem Einsatz seiner Knie und des massigen Körpers gewann Lord Ingalef wieder ein wenig Halt über das Tier. Die Klinge blitzte auf und grub sich durch Fell und Fleisch. Rotes Blut spritzte hervor. Das Knurren erstarb, die Kiefer lösten sich. Der Wolf glitt als schlaffes, haariges Bündel zu Boden. Augenblicke später erstarben seine letzten Lebenszeichen.

Lord Ingalef setzte sich auf und ließ Messer und Kadaver los. Die Klinge klirrte auf den Steinen.

»Oh«, sagte er, die Augen weit aufgerissen und mit einem merkwürdigen Blick. »Es ist geglückt. Wie … überaus eigentümlich sich das anfühlt …«

Cumril warf ihm einen besorgten Blick zu. Der Jäger eilte herbei und verband ihm den zerfleischten Arm.

»Herr, wollt Ihr nicht …«, setzte Cumril an.

Lord Ingalef schüttelte entschieden den Kopf. Er hob die gesunde Hand und bedeutete ihnen in einer unsicheren Geste fortzufahren. »Es geht! Macht weiter!«

Der Zauberer hob eine zweite Klinge von einem Kissen, auf dem sie bis dahin gelegen hatte, und trat erneut mit einem Murmeln nach vorne. Das Messer schimmerte wie frisch geschmiedet. Er drückte es Ingrey in die Hand und trat wieder zurück.

Ingrey umklammerte unglücklich den Griff und schaute seinem Wolf in die strahlenden Augen. Ich möchte dich nicht töten. Du bist viel zu schön. Ich möchte dich behalten. Das Tier öffnete die Schnauze und entblößte strahlend weiße Fänge. Cumril schnappte nach Luft. Aber der Wolf ließ einfach nur die Zunge heraushängen und leckte Ingrey die Hand. Die kühle, schwarze Nase stieß gegen die Faust, die das Messer hielt, und Ingrey blinzelte die Tränen aus den Augen. Der Wolf setzte sich zwischen Ingreys Knien auf, hob den Kopf und blickte vertrauensvoll in das Gesicht seines Mörders.

Er durfte es nicht verpfuschen, durfte dem Tier keine unnötigen Qualen bereiten, indem er womöglich mehrere Male zustechen musste. Ingrey tastete mit den Händen über den Hals des Jungtieres, folgte den festen Muskeln und dem leichten Pochen der Venen und Arterien. Den Saal um sich her nahm er nur noch silbern verschwommen wahr. Der junge Wolf schmiegte sich an ihn, als Ingrey die Klinge ansetzte. Er holte aus, stieß zu und schnitt mit aller Kraft. Er fühlte, wie das Fleisch sich unter dem Stahl teilte, spürte das heiße Blut auf seinen Händen und im weichen Fell. Er fühlte, wie der Körper in seinen Armen schlaff wurde.

Ein düsterer Strom ertränkte seinen Geist wie eine Flut von Blut. Wolfsleben, Leben um Leben, Hütten und Herdfeuer, Burgen und Schlachten, Ställe und Pferde, Feuer und Stahl; Jagd über Jagd, Beute über Beute — aber stets in Begleitung von Menschen, niemals im Wolfsrudel. Weiter ging es zurück, noch hinter die Erinnerungen an Feuer, zurück in endlose Wälder und verharschten Schnee im Mondlicht. Da waren zu viele, viel zu viele, zu viele Jahre … sein Blick wurde leer.

Aufgeregte Rufe; die Stimme seines Vaters: »Da ist was schief gelaufen! Verdammt, Cumril, fang ihn auf!«

»Er zittert in Krämpfen — er hat sich auf die Zunge gebissen, Herr!«

Zeit und Raum verzerrten sich, und dann war sein Wolf gebunden — nein, er war gebunden! Rotsilberne Stricke flüsterten und wisperten um ihn her, wanden sich und senkten ihre Wurzeln wie Ranken in Ingreys Geist. Sein Wolf schnappte nach ihnen, schloss die weißen Zähne um sie und zerrte daran. Doch die Ranken wuchsen mit beängstigender Geschwindigkeit nach. Sie umwickelten seinen Kopf und zogen sich schmerzhaft zusammen.

Dann vernahm er fremde Stimmen in seinem Traum. Sein Wolf huschte davon. Die albtraumhaften Erinnerungen gerieten ins Stocken und versickerten wie Wasser.

»Er kann gar nicht schlafen. Seine Augen sind halb geöffnet — seht Ihr den Schimmer?«

»Nein, weckt ihn nicht! Ich weiß, was man bei Schlafwandlern tun muss! Man muss sie ruhig wieder zurück in ihr Bett führen. Sonst … ich weiß nicht, sonst werden sie wild oder so!«

»Dann fass ich ihn bestimmt nicht an, solange er das Schwert da in der Hand hält!«

»Nun, was dann?«