»Wir brauchen mehr Licht, Weib. Oh, den fünf Göttern sei Dank — da kommt ja einer von seinen eigenen Leuten!«
Es folgte ein kurzer Moment der Stille, und dann eine Stimme: »Lord Ingrey? Lord Ingrey!«
Das Kerzenlicht schimmerte heller, dann noch heller. Ingrey blinzelte, schnappte nach Luft, und langsam klärte sich sein Geist. Sein Kopf schmerzte schrecklich. Er versuchte aufzustehen, und der Schreck brachte ihn vollends zur Besinnung.
Erneut stand er im Siechenhaus des Tempels, wenn man diese Einrichtung in den Hinterzimmern der Apotheke so nennen konnte. Er trug noch immer das Nachthemd des Dechanten, doch es war halb in die Hose gesteckt. Unter den bloßen Füßen spürte er die Dielenbretter, und in der Rechten hielt er sein gezücktes Schwert.
Er war umringt von dem Ratsherrn, einer von Ijadas Zofen und dem Posten, den Gesca für die Nacht abgestellt hatte. Der Ratsherr und die Zofe starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an, und der Posten verharrte unschlüssig auf der Schwelle der Hintertür.
»Ich …« Er musste sich unterbrechen, schlucken, die Lippen befeuchten. »Ich bin wieder wach.« Was tue ich hier? Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?
Anscheinend war er schlafgewandelt. Er hatte schon von so etwas gehört, aber nie zuvor bei sich selbst erlebt. Und es war doch ein wenig mehr als bloßes Umherstolpern in der Dunkelheit: Er hatte sich teilweise angezogen, seine Waffe hervorgeholt, hatte es irgendwie geschafft, unbemerkt eine Treppe hinabzuschleichen, eine Tür zu öffnen — die gewiss verschlossen gewesen war, also hatte er sogar einen Schlüssel herumgedreht! — einen gepflasterten Platz zu überqueren und in dieses andere Gebäude einzudringen.
Wo Lady Ijada schläft. Fünf Götter, bitte lasst sie immer noch schlafen! Die Tür zu ihrer Kammer war geschlossen — jetzt. In plötzlichem Grauen blickte er auf seine Klinge, doch sie schimmerte unberührt. Kein Blut tropfte davon herab. Diesmal nicht.
Mit einem misstrauischen Blick auf das Schwert trat der Wachsoldat zu ihm und fasste ihn am linken Arm. »Alles in Ordnung mit Euch, Herr?«
»Ich habe mir heute den Kopf angeschlagen«, murmelte Ingrey, »und hatte ein paar seltsame Träume nach der Medizin der heilkundigen Schwester. Tut mir Leid …«
»Soll ich … äh, Euch wieder zu Bett bringen, Herr?«
»Ja«, sagte Ingrey dankbar. »Ja …« Das selten gebrauchte Wort kam nur mühsam über seine steifen Lippen: »Bitte.« Er erschauderte, und das lag nicht nur an der Kälte.
Ingrey ließ sich von dem Krieger durch die Tür führen, um die Apotheke herum und zurück über den menschenleeren, düsteren Platz ins Haus des Dechanten. Ein Diener, der Ingreys Aufbruch verschlafen hatte, wurde bei ihrer Rückkehr wach und trat besorgt in die Vorhalle. Ingrey nuschelte noch weitere Entschuldigungen über die Arzneien der Schwester, die den Pförtner offenbar hinreichend besänftigten — was wohl vor allem daran lag, dass er selbst schlaftrunken war.
Ingrey ließ sich von dem Krieger den ganzen Weg zu Bett begleiten und dann sogar noch zudecken. Anschließend zog der Mann sich zurück, in ungeschickt schleichendem Schritt auf Zehenspitzen, bei dem seine Waffen klirrten und die Dielenbretter knarrten. Er zog die Tür hinter sich zu.
Ingrey wartete, bis die Schritte sich über den Platz unten entfernt hatten. Dann kroch er wieder unter der Decke hervor, tastete nach der Zunderdose und entzündete mit zitternden Fingern eine Kerze. Anschließend blieb er ein paar Minuten auf der Bettkante sitzen und erholte sich wieder, ehe er aufstand und sich einen kurzen Überblick über sein Zimmer verschaffte.
Die Tür ließ sich nur von innen verschließen, was bedeutete, dass er sie ebenso leicht wieder aufbekommen konnte — es sei denn, er warf den Schlüssel aus dem Fenster oder schob ihn unter dem Türspalt hindurch in den Flur, was morgen früh peinliche Verzögerungen und Nachfragen zur Folge haben würde. Er bedauerte kurz, dass er sich von dem Wachsoldaten nicht hatte einschließen lassen, obwohl auch das vermutlich ein paar unangenehme Erklärungen erfordert hätte — oder ein paar schlaue Lügen, und im Augenblick fühlte Ingrey sich überhaupt nicht schlau.
Schließlich verstaute er Schwert und Messer in einer Truhe mit überschüssiger Bettwäsche; auf dem Deckel türmte er ein paar Gegenstände auf, darunter die Blechschale vom Waschtisch, die er in einer gewollt wackligen Konstruktion ganz oben platzierte.
Dann blies er die Kerze aus und legte sich wieder ins Bett. Längere Zeit lag er verkrampft da; dann stand er erneut auf und durchwühlte in der Finsternis die Satteltaschen nach einer Seilrolle. Er wickelte sich das eine Ende fest um den Knöchel, rollte ein weiteres Stück Seil ab und band den Rest um den unteren Teil eines Bettpfostens. Schwerfällig wickelte er sich erneut in seine Decken.
Er hatte ein Pochen im Kopf, und Schmerz pulsierte in seiner Schulter wie glühende Kohle unter der Haut. Er zappelte, wälzte sich im Bett und fühlte sich plötzlich von dem Seil zurückgehalten. Nun, zumindest funktionierte das. Er drehte sich wieder auf den Rücken und starrte mit zusammengebissenen Zähnen in die Dunkelheit empor. Seine Augen fühlten sich an, als hätte er sie mit Sand ausgespült.
Besser als zu träumen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er wieder den Wolfstraum gehabt, auch wenn er sich jetzt nur noch bruchstückhaft daran erinnerte. Anscheinend gab es mehr als einen Grund, das Einschlafen zu fürchten.
Wie bin ich bloß in diese Lage geraten? Vor einer Woche noch war er ein glücklicher Mann gewesen, oder zumindest hinreichend zufrieden. Dank der Großzügigkeit seines Dienstherrn besaß er eine behagliche Kammer in Hetwars Palast, einen persönlichen Burschen, ein Pferd, Kleidung und Waffen — dazu eine Besoldung, die für seine Vergnügungen ausreichte. Er wohnte in der Hauptstadt des Geheiligten Königs, wo das Leben brodelte. Und was das Beste war: Er hatte eine Stellung im Haushalt des Siegelbewahrers inne und genoss den Ruf eines treuen Vertrauten. Nicht nur ein gedungener Schurke, nicht eben ein Schreiber, sondern ein Mann, dem man ungewöhnliche Aufgaben anvertraute, die diskret erledigt werden mussten.
Als Hetwars bedeutsamster Bote überbrachte er wertvolle Sendungen sicher dem Empfänger und beförderte Drohungen mit angemessenen Feingefühl für den richtigen Tonfall. Er glaubte nicht, das er eine besondere Unbestechlichkeit zur Schau stellte wie manch anderer; vielleicht hatte er einfach schon zu viel verloren, um sich von irgendwelchem Tand in Versuchung führen zu lassen. Diese Gleichgültigkeit war ein angemessener Ersatz für Ehrlichkeit, und mitunter diente sie Hetwars Zwecken noch weitaus besser. Seine liebste Belohnung war für gewöhnlich, wenn er seine Neugier befriedigen konnte.
Bei der Hölle des Bastards — noch vor drei Tagen hatte er sich vergleichsweise unbeschwert gefühlt. Bolesos Leichnam und seinen Mörder herbeizuschaffen, klang nach einer unerfreulichen, aber unkomplizierten Aufgabe. Ganz im Rahmen seiner Fähigkeiten als erfahrener, nüchterner, findiger und vor allem nicht im mindesten von einem Wolf heimgesuchten Diener des königlichen Hauses.
Wieder zupfte das Seil an seinem Knöchel. Bei der Erinnerung an das Gefühl des Schwertgriffes krampfte seine Rechte sich zusammen. Verflucht sei dieses Leopardenmädchen! Wäre sie einfach unter Boleso liegen geblieben wie jedes andere eigennützige Frauenzimmer, hätte sie einfach die Beine breit gemacht bei dem Gedanken an die kostbaren Kleider und Juwelen, die sie unzweifelhaft erhalten hätte, dann hätte das alles nicht geschehen müssen. Dann würde Ingrey nun nicht hier liegen, mit einem blutigen Stickwerk, das zwischen seinen Haaren juckte, ans Bett gefesselt und mit Schmerzen in der Hälfte all seiner Muskeln — unfähig, etwas anderes zu tun, als starr und steif die graue Morgendämmerung abzuwarten.