Und an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln.
Kapitel Vier
Am nächsten Morgen musste Ingrey es noch länger in Riedenswooge aushalten, als er gehofft hatte. Dafür war der Dechant verantwortlich, der unbedingt eine regelrechte Zeremonie abhalten wollte, als man Bolesos Sarg auf einen neuen Wagen verlud. Zumindest war dieser neue Wagen passabeclass="underline" robust gebaut und mit einigen düsteren Behängen, die seine helle Lackierung verbargen — wenn auch nicht den ausgeprägten Geruch nach Bier, der das Gefährt umgab.
Als Gespann dienten sechs stämmige, lohfarbene Gäule mit massigen Schultern, schweren Schenkeln und breiten Hufen. Ihre Mähnen und die hoch gebundenen Schwänze waren mit Bändern in Orange und Schwarz geschmückt, und die Glöckchen am glänzenden Geschirr hatte man mit schwarzem Flanell gedämpft. Ingrey, dessen Kopf immer noch vom gestrigen Schlag pochte, war sehr dankbar dafür. Unter normalen Umständen hatte das Gespann ganz andere Lasten zu ziehen. Man konnte also davon ausgehen, dass es den Leichnam des Prinzen mühelos über steile Hänge und durch tiefsten Morast befördern würde.
Ritter Gesca kam heran, um Ingrey beim Aufsitzen zu helfen, doch als er seinen Anführer aus der Nähe erblickte, zuckte er erschrocken zurück. Auf Ingreys finsteren Blick hin verkniff er sich jeden Kommentar. Ingrey hatte sich zwar rasiert, und die Dienstboten des Dechanten hatten die Reitkleidung trocken, poliert und gefettet zurückgebracht, doch an den blutunterlaufenen Augen und dem aschgrauen, angeschwollenen Gesicht ließ sich nicht das Mindeste ändern.
Ingrey biss die Zähne zusammen und rückte den schmerzenden Leib ein wenig bequemer im Sattel zurecht. Dann erduldete er die langsame Prozession die Stadttore hinaus, begleitet vom Klingen von Glöckchen, Gesängen und Schwaden von Räucherwerk, was Riedenswooge offenbar als angemessenen Abschied für einen Prinzen ansah.
Ingrey wartete, bis die Stadt außer Sicht gekommen war. Dann wies er den neuen Fuhrmann an, die Tiere zu einem schwerfälligen Trab anzutreiben. Die Brauereipferde schienen die einzig fröhlichen Mitglieder des Trupps zu sein. Ausgeruht und von einer gewissen behäbigen Ausgelassenheit beseelt, betrachteten sie diese Fahrt offenbar als eine Art Feiertagsausflug für Pferde.
Lady Ijada war so adrett wie am Morgen zuvor, nur dass sie heute ein noch eleganteres, graublaues Reitkleid mit silbernem Saum trug. Sie hatte in dieser Nacht offenbar gut geschlafen. Ingreys Stimmung schwankte irgendwo zwischen Neid und Erleichterung, während seine Kopfschmerzen an- und abschwollen. Nach etwa einer Stunde Ritt durch den hellen Morgen fühlte er sich so erholt, wie er es heute vermutlich erwarten konnte. Beinahe wieder wie ein Mensch. Bei diesem bitteren Scherz biss er die Zähne zusammen und machte sich daran, prüfend die Kolonne abzureiten.
Ijadas neue Zofe reiste im Wagen mit. Es war eine der Tempeldienerinnen aus Riedenswooge, eine Frau mittleren Alters, die sie für diese Fahrt in Dienst genommen hatten. Sie behielt ihre Schutzbefohlene ständig im Auge und trat deutlich unterkühlter auf als die Landfrau aus Keilerkopf, die Boleso noch besser gekannt hatte. Allerdings schien sie Ingrey mit noch größerer Wachsamkeit zu beobachten, und dieser fragte sich, ob sie Ijada wohl von seinem nächtlichen Ausflug erzählt hatte.
Bolesos Gefolgsleute wirkten an diesem Tag ebenfalls reizbarer als zuvor. Ostheim rückte immer näher und damit auch eine mögliche Strafe, weil sie ihren verbannten Prinzen nicht am Leben gehalten hatten. Manch einer von ihnen warf Bolesos Opfer-und-Mörderin hasserfüllte Blicke zu, und Ingrey beschloss, diese Männer sowohl von berauschenden Getränken wie auch von der Gefangenen fern zu halten, bis er den ganzen Haufen mitsamt ihrem toten Anführer jemand anderem anvertrauen konnte.
Gestern Abend noch hatte er einen Botenreiter des Tempels zu Siegelbewahrer Hetwar geschickt, mitsamt dem voraussichtlichen Reiseplan des Leichenzuges. Ingrey wusste nicht, wen Hetwar schicken würde, um den Zug zu übernehmen, aber er wollte gewiss nicht wählerisch sein. Und wenn der Siegelbewahrer den weiteren Verlauf in Ingreys Händen beließ, so war dieser entschlossen, Boleso am besten im Galopp zu seiner Beerdigung zu schaffen.
Wenn die schweren Pferde auch nicht gerade galoppierten, so zogen sie Boleso doch stetig und hurtigen Schrittes durch eine Landschaft, die allmählich sanftere Züge annahm: Die Straßen wurden breiter und waren in besserem Zustand; karge Weiden inmitten ausgedehnter, wilder Wälder wichen vereinzelten, bewaldeten Hügelkuppen, umgeben von ausgedehnten Ackerflächen. Mitunter konnte man gleich mehrere Dörfer auf einmal am Horizont ausmachen.
Auch der Verkehr nahm zu, nicht nur Bauernkarren, sondern auch gut gekleidete Reiter und Händler mit hoch beladenen Maultieren, die ihnen alle eilig aus dem Weg gingen.
Eine Ausnahme bildete eine Herde schlanker, schwarzer Schweine, auf die sie in einem Eichenwald stießen. Der Schweinehüter und sein Gehilfe, die auf dieser Straße nicht mit einem königlichen Leichenzug gerechnet hatten, verloren die Herrschaft über die halbwilden Tiere, und Ingreys und Bolesos Männer mussten — belustigt und verärgert zugleich — dabei helfen, den Weg wieder freizumachen. Mit lautem Johlen, Flüchen und durch Schläge mit der flachen Seite ihrer in den Scheiden steckenden Schwerter trieben sie die Tiere beiseite.
Ingrey überprüfte seine eigenen Reaktionen. Diese quiekende Beute schien ihn nicht über Gebühr in Erregung zu versetzen, und das war sehr beruhigend. Reglos und grimmig saß er auf dem Pferd, bis die Schweine wieder im dichten Gehölz verschwunden waren. Er stellte fest, dass Lady Ijada gleichfalls still im Sattel saß und abwartete, ebenfalls mit einem eigentümlichen, nach innen gekehrten Ausdruck auf dem Gesicht.
Während des Rittes versuchte er nicht, mit ihr zu reden. Seinem Befehl gemäß hielten seine eigenen Krieger sich in Ijadas Nähe auf, solange sie auf dem Pferd saß. Wenn sie während einer Rast abstieg, folgte die Tempeldienerin pflichtbewusst jedem ihrer Schritte. Allerdings blickte Ingrey immer wieder in Ijadas Richtung und stellte allzu oft fest, dass sie ihn ebenfalls beäugte. Es war kein angstvoller Blick, viel eher wirkte sie besorgt. Als wäre er ihrer Obhut anvertraut!
Das war überaus irritierend, und er fühlte sich an zwei Jagdhunde erinnert, die gemeinsam an einer Koppelleine hingen. Es kostete ihn alle Kraft, sie nicht anzusprechen und möglichst auch nicht anzusehen, und schließlich fühlte er sich völlig erschöpft von dieser Anstrengung.
Nach einem langen und ermüdenden Tag gelangten sie endlich in die freie Reichsstadt Rottwall. Dank ihres Status unterstand diese Stadt weder dem örtlichen Grafen noch einem Dechanten, sondern wurde gemäß eines königlichen Privilegs von einem eigenen Stadtrat regiert. Dies führte leider keineswegs zu irgendwelchen Abstrichen am Zeremoniell, und so musste Ingrey eine langwierige Prozedur über sich ergehen lassen, als ihre Gastgeber Boleso zur Nacht im Tempel aufbahrten — ein großes Steingebäude in darthacischem Stil, mit fünf runden und kuppelüberwölbten Gebäudeflügeln.
Das zentral gelegene Gasthaus war zugleich das sauberste. Ingrey selbst geleitete Lady Ijada und ihre Zofe ins Obergeschoss, wo sich das Schlafgemach und die persönliche Stube befanden. Er untersuchte sämtliche Zugänge. Die Fenster gingen zur Straße hinaus, waren sehr klein und konnten vom Boden aus nur schwer erreicht werden. Die Türen waren aus solider Eiche gezimmert. Gut.
Er holte die Zimmerschlüssel aus der Gürteltasche und reichte sie Lady Ijada. Deren Zofe und Aufpasserin musterte ihn mit einem Ausdruck neugieriger Missbilligung, wagte allerdings nicht, irgendwelche Einwände zu erheben.
»Haltet die Türen die ganze Nacht verschlossen«, wies Ingrey Lady Ijada an. »Verriegelt sie am besten noch zusätzlich.«
Sie kniff ein wenig die Augenbrauen zusammen und sah sich in den friedlich wirkenden Räumlichkeiten um. »Muss ich an diesem Ort denn irgendetwas fürchten?«