Nur das, was wir selbst hierhin gebracht haben. »Letzte Nacht bin ich schlafgewandelt«, räumte er widerstrebend ein. »Ich stand vor Eurer Tür, als ich geweckt wurde.«
Sie nickte langsam und warf ihm einen weiteren dieser Blicke zu. Er biss die Zähne zusammen und erklärte: »Ich werde in einem der anderen Gasthäuser Unterkunft nehmen. Ich weiß, dass Ihr mir Euer Wort gegeben habt, aber ich möchte Euch noch einmal bitten, diese Räumlichkeiten nicht zu verlassen und Euch möglichst nicht sehen zu lassen. Nicht einmal zum Essen. Ich werde dafür sorgen, dass Euch das Abendessen hier aufs Zimmer gebracht wird.«
»Ich danke Euch, Lord Ingrey«, erwiderte sie schlicht.
Mit einem knappen Nicken entfernte er sich.
Ingrey ging zunächst zur Schankstube hinunter, um alles zu regeln, dass seine Gefangene ihre Mahlzeiten bekam. Dieser Raum war über ein kurzes, schmales Flurstück vom Treppenhaus und der Eingangshalle her zu erreichen. Zwei von Bolesos Leuten hielten sich dort bereits auf, zusammen mit einem von Ingreys eigenen Männern. Die drei widmeten sich ihren Bierkrügen.
Ingrey musterte die Gefolgsleute des Prinzen: »Ihr seid hier untergebracht?«
»Wir sind überall untergebracht, Herr«, erwiderte einer der Männer. »Die anderen Gasthäuser sind schon voll von unseren Leuten.«
»Besser als ein Lager auf den Fliesen des Tempels«, warf Ingreys Krieger ein.
»O ja«, pflichtete der erste Sprecher ihm bei und nahm einen tiefen Schluck. Sein stämmig gebauter Kamerad grunzte irgendetwas, das man als Zustimmung deuten konnte.
Lärm und ein kurzer, erschrockener Ruf von draußen erregten Ingreys Aufmerksamkeit. Er trat an die Fenster der Gaststube und blickte auf die Straße hinaus. Dort war ein offener Wagen in der Abenddämmerung vorgefahren, gezogen von zwei robusten, verschwitzten Pferden. Unmittelbar vor dem Gasthaus war ein Rad von der Achse gesprungen und lag nun auf dem Pflaster. Daneben hing der Wagen in einer wackelig wirkenden Schräglage; Laternen schaukelten an den Stangen an seiner Stirnseite und zeichneten auf- und abwogende Schatten auf die umliegenden Hauswände. Eine muntere Frauenstimme verkündete: »Mach dir nichts draus, Liebe. Bernan bringt das in Ordnung. Deshalb habe ich …«
»… gesagt, ich soll meine Werkzeugtruhe mitnehmen, ja«, führte eine müde Männerstimme hinten aus dem Wagen den Satz zu Ende. »Ich kümmere mich darum. Gleich.«
Der Diener sprang aus dem Wagen und stellte einen Holztritt neben den zurzeit geneigten Ausstieg. Dann halfen er und eine weitere Dienstbotin einer kurzen, untersetzten, in einen Kapuzenmantel gehüllten Gestalt beim Aussteigen.
Ingrey wandte sich ab und dachte bei sich, dass die Neuankömmlinge es schwer finden mochten, heute Abend in Rottwall noch ein Zimmer zu bekommen. Der stämmige Gefolgsmann leerte seinen Krug, rülpste und fragte den Schankkellner, wo der Abtritt sei. Dann schlurfte er an Ingrey vorbei zum Flur.
Dort war inzwischen auch die untersetzte Frau im Kapuzenmantel angekommen. Ihre Dienstmagd stand hinter ihr, zu Boden gebeugt, murmelte Verwünschungen und versperrte den Durchgang. Der weite Mantel war schmutzig und fadenscheinig und hatte offenbar schon bessere Tage erlebt.
Der stämmige Gefolgsmann stieß einen Fluch aus und knurrte: »Pack dich aus dem Weg, du fette Sau!«
Aus den Tiefen des Mantels kam ein entrüstetes »Hä?«; dann warf die Frau die Kapuze zurück und funkelte zornig zu dem Mann auf. Sie war weder jung noch alt, besaß aber etwas Matronenhaftes. Ihr lockiges, rotblondes Haar hatte sich teilweise aus den Zöpfen seitlich am Kopf gelöst und zeichnete eine schwache, wilde Aureole um ihr Gesicht, das entweder von der Beleidigung, von der abendlichen Kühle oder von beidem gerötet war. Ingrey, der über die Schulter des Kriegers blickte, spannte sich an: Bolesos Leute waren es gewiss nicht gewohnt, von gewöhnlichem Volk herausgefordert zu werden. Aber dieses törichte Frauenzimmer ließ sich anscheinend weder von dem Schwert noch von der Rüstung des Mannes einschüchtern. Und auch nicht von seiner Größe oder Trunkenheit.
Die Frau löste die Fibel vor ihrem Hals und ließ den Mantel herabgleiten; darunter trug sie das Grün der Kirche der Mutter. Sie war nicht fett, sondern hochschwanger. Wenn sie eine Hebamme war, würde sie bald ihrer eigenen Dienste bedürfen, befand Ingrey. Die Frau langte über den vorspringenden Bauch hinweg, berührte ihre linke Schulter und räusperte sich bedeutungsschwer. »Siehst du das, junger Mann? Oder bist du schon zu besoffen, um noch klar sehen zu können?«
»Was sehen?«, fragte der stämmige Krieger zurück. Er ließ sich von einer Hebamme anscheinend noch weniger beeindrucken als von einer gewöhnlichen, schwangeren Frau.
Sie folgte seinem Blick zu ihrer Schulter, wo nichts weiter zu sehen war als abgewetztes grünes Tuch. Verdrossen schürzte sie die Lippen. »Oh, verflixt. Hergi!« Sie fuhr zu der Dienerin herum, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte. »Sie sind schon wieder heruntergefallen. Ich hoffe, ich habe sie nicht unterwegs auf der Straße verloren.«
»Ich habe sie gerade wieder aufgehoben, Herrin«, keuchte die geplagte Dienstbotin. »Ich stecke sie gleich an. Wieder mal.«
Sie hielt nicht nur eine kirchliche Amtstresse in der Hand, sondern gleich zwei davon. Diese brachte sie nun wieder an den ihnen gebührenden Stellen an, die Zunge vor Eifer zwischen die Zähne geklemmt. Die erste Schnur war aus dunkelgrünen, strohgelben und glänzend goldenen Fäden geflochten und kennzeichnete eine Geistliche und ausgebildete Heilerin aus der Kirche der Mutter. Die zweite Tresse — in Weiß, Beige und Silber — wies sie als Tempelzauberin der Kirche des Bastards aus. Das erste Amtszeichen rief selbst bei Bolesos Gefolgsmann wenn schon nicht Respekt, so doch eine gewisse Achtsamkeit hervor. Das zweite Zeichen aber ließ ihn kreidebleich werden.
Ingreys Mundwinkel zuckten hoch. Es war das erste Mal, dass er an diesem Tag einen Grund zum Lächeln fand. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Ich würde sagen, du solltest dich bei der gelehrten Dame entschuldigen und sie dann vorbeilassen.«
Der Gefolgsmann blickte finster. »Die sind nicht echt!«
Ganz offensichtlich war ihm das Blut nicht nur aus dem Gesicht gewichen, sondern auch aus dem Hirn. Wer einen Fehler nicht eingestehen kann, wird ihn zwangsläufig wiederholen? Vorsorglich wich Ingrey einige Schritte zurück, auch weil es ihm einen besseren Blick auf den weiteren Gang der Ereignisse verschaffte.
»Ich habe wirklich keine Zeit mehr für dich«, stellte die Zauberin verärgert fest. »Wenn du dich schon unbedingt so aufführen willst wie in einem Stall, sollst du auch gleich selbst ein Schwein werden. Zumindest, bis du ein wenig Benehmen gelernt hast.« Sie machte einen Wink in Richtung des Gefolgsmannes, und Ingrey unterdrückte das Verlangen, in Deckung zu gehen. Es überraschte ihn nicht, als der Krieger vor ihm plötzlich auf alle viere kippte und sein entsetztes Keuchen in ein Grunzen überging.
Die Zauberin rümpfte die Nase, raffte ihre Kleidung und stieg geziert über ihn hinweg. Die Dienerin kam kopfschüttelnd hinterher; sie trug eine Ledertasche mit sich und hob unterwegs auch noch den Mantel auf. Ingrey verneigte sich höflich vor den Frauen, als sie an ihm vorbei in die Gaststube traten, und folgte ihnen dann. Das heftige Schnaufen vom Boden hinter ihm versuchte er zu ignorieren. Die beiden anderen Krieger drückten sich an den Wänden der Gaststube entlang bis zu dem Durchgang und blickten besorgt in den Flur.
»Ich bitte um Verzeihung, Hochwürden«, sagte Ingrey liebenswürdig, »aber wird Eure heilsame Lehre lange von Bestand sein? Ich frage nur, weil der Mann morgen wieder in der Lage sein muss, auf ein Pferd zu steigen.«
Die rotblonde Frau wandte sich ihm zu und musterte ihn finster. Ihre gelösten Haarsträhnen schienen inzwischen in alle Richtungen zugleich von ihr fortstreben zu wollen. »Gehört er zu Euch?«