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»Ein paar Wochen. Kurz bevor seine Schwester hier eintraf.«

Ingrey drehte die dicke, rote Schnur zwischen den Fingern und runzelte die Stirn. »Und wie ist das hier passiert?«

»Es hing von einem Balken im Schlafgemach des Prinzen. Wir fanden es, als wir … äh, eintraten.«

Ingrey hockte sich auf die Fersen. Allmählich verstand er, warum kein Geistlicher aus dem Tempel hinzugezogen worden war, der sich um die Bestattungsriten kümmern sollte. Die Farbspuren, die rote Kordel, der Eichenbalken, ein Tier, das nicht einfach getötet, sondern geopfert worden war … das alles wies darauf hin, dass sich hier jemand oberflächlich mit den alten Ketzereien befasst hatte, mit der verbotenen Waldmagie. Hatte der Siegelbewahrer davon gewusst, als er Ingrey ausgesandt hatte? Wenn dem so war, hatte er es mit keinem Anzeichen verraten. »Wer hat das Tier aufgehängt?«

Mit der Erleichterung eines Mannes, der eine Wahrheit aussprach, die ihm nicht schaden konnte, erklärte Ulkra: »Ich habe es nicht gesehen und weiß es deshalb nicht. Als wir das Mädchen hineinbrachten, lebte das Tier noch und lag friedlich angebunden in der Ecke. Keiner von uns hat danach noch etwas gesehen oder gehört. Bis die Schreie erklangen.«

»Welche Schreie?«

»Nun … die des Mädchens.«

»Was hat sie geschrien? Oder waren es …« Ingrey verstummte, bevor er nur Schreie sagte. Er hatte den Verdacht, Ulkra hätte diese Andeutung allzu bereitwillig aufgegriffen. »Was hat sie gerufen?«

»Sie rief um Hilfe.«

Ingreys lange Ledergamaschen knarrten, als er sich von dem exotisch gefleckten Tierleib abwandte und aufstand. Sein Blick nagelte Ulkra fest. »Und was habt Ihr darauf unternommen?«

Ulkra drehte den Kopf zur Seite. »Unsere Befehle lauteten, dafür zu sorgen, dass der Prinz ungestört blieb, Herr.«

»Wer hörte die Hilferufe? Ihr und …?«

»Zwei der Wachen, die auf seine Befehle warten sollten.«

»Drei kräftige Männer also, die durch Eid dem Schutz des Prinzen verpflichtet waren. Und sie standen — wo?«

Ulkras Gesicht war starr wie in Stein gemeißelt. »Im Flur. Neben seiner Tür.«

»Sie standen im Gang, keine fünf Schritte vom Mord entfernt, und taten nichts?«

»Wir haben es nicht gewagt, Herr. Denn er hat nicht gerufen. Und dann verstummten die Schreie auch schon. Wir dachten, das Mädchen hätte sich in sein … äh, Schicksal gefügt. Immerhin ging sie freiwillig hinein.«

Freiwillig? Oder verzweifelt? »Sie war keine Dienstmagd. Sie gehörte zum Gefolge von Prinz Bolesos Schwester, ein Mädchen gehobenen Standes, das immerhin von der Familie Dachswall empfohlen und dem Schutz ihres Hauses anvertraut war.«

»Prinzessin Fara persönlich hat sie ihrem Bruder überlassen, als er um das Mädchen bat, Herr.«

Gezwungenermaßen, besagte der Klatsch, den Ingrey gehört hatte. »Wodurch sie zu einer Angehörigen dieses Haushaltes wurde. Oder nicht?«

Ulkra zuckte zurück.

»Sogar ein einfacher Dienstbote verdient eine bessere Behandlung durch seine Herrschaft.«

»Jeder angetrunkene Herr kann einen Diener schlagen und sich bei der Wucht des Hiebes verschätzen«, behauptete Ulkra standhaft. Der Tonfall klang für Ingrey einstudiert. Wie oft während der letzten sechs Monate hatte Ulkra in der Stille der Nacht versucht, sich selbst mit dieser Entschuldigung zu überzeugen?

Der hässliche Mord an einem Dienstboten war der Grund dafür, dass Prinz Boleso ins Exil auf dieses entlegene Felsennest geschickt worden war. Die bekannte Jagdleidenschaft des Prinzen machte diese Verbannung als Strafe zweifelhaft; aber zumindest sorgte sie dafür, dass die Kirche dem königlichen Siegelbewahrer Hetwar nicht länger im Nacken saß. Für ein Verbrechen war es eine zu geringe Sühne, aber eine deutlich zu strenge Maßnahme für einen bloßen Unfall. Ingrey hatte in Lord Hetwars Auftrag am Morgen nach der Tat dieses Schlachthaus untersucht, bevor der Raum gesäubert worden war. Seiner Ansicht nach war weder »Mord« noch »Unfall« die angemessene Bezeichnung für die Tat.

»Aber nicht jeder Herr würde sich dann an dem Opfer vergreifen und es häuten und in Stücke schneiden, Ulkra. Hinter dieser Untat steckte mehr als Trunkenheit. Es war Wahnsinn, und wir alle wussten es.« Nach dieser nächtlichen Raserei hatten der König und sein Hofstaat sich in ihrem Urteil beeinflussen lassen, nicht zum Wohle des Prinzen, sondern aus Treue zum königlichen Hause und aus Sorge um dessen Ansehen. Und dieses Unheil war nun die Folge davon.

Man hatte Boleso in einem weiteren halben Jahr zurück bei Hofe erwartet — gebührend geläutert. Doch Prinzessin Fara hatte die Reise von den Landgütern ihres kurgräflichen Ehemannes ans Krankenlager ihres Vaters unterbrochen, und wie Ingrey vermutete, hatte der gelangweilte Boleso ein Auge auf ihr hübsches Kammerfräulein geworfen. Die schlechten Neuigkeiten erreichten unmittelbar nach der Prinzessin die königliche Halle in Ostheim, und in Faras Gefolge kursierten die unterschiedlichsten Versionen der Geschichte: Entweder hatte das verfluchte Mädchen seine Tugend aus Angst vor der aufdringlichen Wollust des Prinzen aufgegeben oder aus Berechnung dem eigenen Ehrgeiz geopfert. Man konnte sich aussuchen, welchem Gerücht man glauben wollte.

Wenn es Berechnung gewesen war, so war sie auf furchtbare Weise fehlgeschlagen. Ingrey seufzte. »Zeigt mir das Schlafgemach des Prinzen.«

Das Gemach des verstorbenen Prinzen lag hoch oben im Bergfried. Der kurze Flur davor war düster. Ingrey stellte sich Bolesos Leute vor, wie sie sich am äußersten Ende des Ganges im flackernden Kerzenschein zusammendrängten und darauf warteten, dass die Schreie verstummten. Er biss die Zähne zusammen. Die massive Zimmertür besaß auf der Innenseite einen hölzernen Riegel sowie ein Eisenschloss.

Die Einrichtung war karg und rustikaclass="underline" ein Himmelbett, gerade lang genug für den Prinzen, Truhen, der Ständer mit seiner zweitbesten Rüstung in einer Ecke. Eine Vielzahl kleiner Teppiche lag auf den breiten Bodendielen verstreut, und einer davon zeigte einen großen dunklen Fleck. Die spärliche Ausstattung ließ ausreichend Platz für eine Verfolgungsjagd. Das Opfer konnte Haken schlagen und davonhetzen, bis es schließlich atemlos gestellt wurde. In die Enge getrieben würde es sich herumdrehen und …

Die Fenster zur Rechten des Rüstungsständers waren schmal und bestanden aus dicken Butzenscheiben in einer Bleifassung. Ingrey öffnete die Fensterflügel, stieß die Schlagläden auf und schaute auf die waldbedeckte Hügellandschaft jenseits der Felsspitze. In dem verhangenen Licht stiegen Nebelfetzen wie Geisterflüsse aus den Schluchten empor. Am Talgrund war ein schlichtes Bauerndorf aus dem Wald geschlagen worden, zweifellos die Quelle von Nahrung, Dienern und Feuerholz für die Burg — alles so derb und einfach wie der Ort selbst.

Der Sturz vom Fensterbrett hinunter auf die Pflastersteine war tödlich, der Sprung bis zu den Wällen jenseits des Hofes unmöglich, selbst für jemanden, der schlank genug war, um sich durch die Öffnung zu winden. Bei Dunkelheit und Regen. Nein, auf diesem Weg war keine Flucht möglich, außer in den Tod. Doch vom Fenster aus lag der Rüstungsständer in Reichweite einer verängstigten Beute und ihrer tastenden Finger, nur eine halbe Drehung entfernt. Eine Streitaxt, der Griff mit Gold und rotem Kupfer eingelegt, befand sich noch dort.

Sein Gegenstück, ein passender Kriegshammer, lag auf dem zerwühlten Bett. Der kantige eiserne Kopf — ähnlich einer Tierpranke — war mit geronnenem Blut verschmiert, ebenso der fleckige Bettvorleger. Mit der Handfläche maß Ingrey den Hammerkopf aus und bemerkte die Übereinstimmung mit den Verletzungen, die er gerade gesehen hatte. Der Hammer war beidhändig geführt worden, mit der ganzen Kraft des Entsetzens, wenn auch nur mit der Kraft einer Frau. Der Prinz, halb benommen — halb wahnsinnig? — war offensichtlich weiter auf sie eingedrungen. Der zweite Schlag war wuchtiger gewesen.