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Hallana schob den Kopf vor und zurück. »Ich sehe seine Seele, mit meinem inneren Auge. Ich sehe das finstere Ding. Aber ich sehe und höre nichts von diesem Dritten. Es entstammt nicht den Gefilden des Bastards … nicht der spirituellen Welt, über die die Götter herrschen. Und doch nehme ich merkwürdige Windungen an seiner Seele wahr. Ein besonders durchsichtiges Glas, das die Augen nicht mehr wahrnehmen können, kann man doch noch mit den Fingern ertasten. Ich muss eine Berührung wagen.«

»Nein«, rief Ingrey in Panik.

»Herrin«, murmelte die Dienstbotin zu ihren Füßen. »Solltet Ihr wirklich …? Jetzt?«

Hallanas Lippen bewegten sich in stummen Flüchen. »Lasst uns nachdenken«, sagte sie laut.

Ein Klopfen erklang von der Tür. Die Zofe kehrte zurück, begleitet von einigen Hausknechten des Gasthauses, die Tabletts hereintrugen, sowie von dem Mann, den Hallana als Bernan bezeichnet hatte und der eine große Truhe heranschleppte. Er war ein drahtiger Mann mittleren Alters mit einem aufmerksamen Gesichtsausdruck. Sein grünes Lederwams war mit alten Brandflecken gesprenkelt wie der Kittel eines Schmiedes. Er schnupperte genussvoll, als die Tabletts an ihm vorbeigetragen wurden. Der köstliche Duft von in Essig mariniertem Fleisch und Zwiebeln stieg von den Töpfen und Schalen auf und erinnerte Ingrey daran, dass er selbst ausgehungert und erschöpft war.

Hallanas Miene hellte sich auf. »Besser noch, lasst uns erst essen und dann nachdenken!«

Die Hausknechte deckten den Tisch der kleinen Stube; dann aber schickte die Zauberin sie hinaus und ließ sie wissen, dass sie sich das Essen lieber von ihren eigenen Leuten anreichen ließ. »Um ehrlich zu sein«, flüsterte sie Ingrey verstohlen zu, »mache ich zurzeit ein solches Durcheinander, dass ich mich gar nicht mehr traue, in der Öffentlichkeit zu essen.« In weiser Voraussicht schickte Ingrey auch die Zofe wieder hinaus, damit sie ihr Abendessen in der Gaststube einnahm und dort abwartete, bis sie wieder gerufen wurde. Zögernd und mit einem letzten, neugierigen Blick zurück verließ sie das Gemach.

Bernan, der Diener, teilte mit, dass Hallanas Pferde sicher in den Ställen des örtlichen Tempels untergebracht waren, dass der Wagen repariert und auch für Hallanas Unterkunft gesorgt war, und zwar bei einer gewissen Heilerin der Mutter hier in Rottwall, die offenbar selbst einmal in Neresblatt gelernt hatte. Unvermittelt und ungeplant fand Ingrey sich schließlich mit den beiden Frauen gemeinsam am kleinen Tisch wieder, wo er zu Abend aß. Der Diener ließ die Wasserschüssel für die Hände herumgehen, und die doppelte Geistliche sprach einen nachlässigen Segen über die Speisen.

Hergi drapierte eine Serviette von der Größe eines Tischtuchs um ihre Herrin und half ihr beim Essen. Flink fing sie umkippende Gläser, schwankende Krüge und ins Rutschen geratene Teller wieder auf; oft noch bevor etwas verschüttet wurde — manchmal allerdings nicht. »Trinkt euren Wein«, empfahl die Zauberin. »In einer halben Stunde ist er sauer. Ich sollte besser wieder weg sein, bevor der Gastwirt den Ärger mit seinem Bier bemerkt. Nun, sein Vorrat an Flöhen, Läusen und Bettwanzen wird meinen Aufenthalt hier wohl ebenso wenig überleben, also dürfte es ein gerechter Handel sein. Wenn ich länger bleibe, muss ich meine Kräfte vielleicht sogar noch gegen die Mäuse richten. Arme Dinger.«

Lady Ijada wirkte ebenso ausgehungert wie Ingrey, und eine Zeit lang kam das Gespräch zum Erliegen. Hallana brachte es wieder in Gang, indem sie ohne Umschweife danach fragte, wie Ingrey zu seinem Wolf gekommen war. Trotz seines Hungers hatte Ingrey plötzlich einen Knoten im Magen und quälte sich stockend durch einen Bericht, der am Ende noch ausführlicher ausfiel als das, was er Ijada anvertraut hatte. Er erzählte alles, so gut er sich eben noch an die weit zurückliegenden, verwirrenden Ereignisse erinnern konnte.

Die beiden Frauen lauschten gebannt. Ingrey war sich voll Unbehagen bewusst, dass Bernan und Hergi ebenfalls zuhörten: Bernan hatte sich mit einem Teller auf der Holztruhe niedergelassen, und Hergi schob sich zwischendurch immer wieder einen Bissen in den Mund, während sie gleichzeitig hinter ihrer Herrin her aufräumte. Allerdings konnte man davon ausgehen, dass die Dienstboten einer Tempelzauberin ohnehin an Verschwiegenheit gewohnt waren.

»Hatte Euer Vater vorher schon Interesse an der Tiermagie Eurer alten wealdischen Vorfahren gezeigt?«, wollte Hallana wissen, nachdem Ingrey den Ritus bis zu seinem Ende beschrieben hatte.

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Ingrey. »Das alles schien sehr plötzlich zu kommen.«

»Aber warum hat er dann damit angefangen?«, warf Ijada ein.

Ingrey zuckte die Achseln. »Alle, die das hätten wissen können, sind danach gestorben oder geflohen. Es war keiner mehr übrig, den ich hätte fragen können, als ich mich weit genug erholt hatte.« Seine Gedanken schreckten zurück vor der Erinnerung an diese düsteren Wochen der Verwirrung. Es gab Dinge, die blieben besser in Vergessenheit.

Hallana kaute, schluckte und fragte: »Und wie habt Ihr gelernt, Euren Wolf zu binden?«

Solche Dinge, beispielsweise … Ingrey rieb sich den steifen Nacken, aber das löste seine Verspannung nicht. »Audars altes Gesetz, demzufolge jeder, der von einem Tiergeist heimgesucht war, lebendigen Leibes verbrannt werden sollte, war seit Menschengedenken nicht mehr in Birkenhain zur Anwendung gekommen. Der örtliche Geistliche, der mich schon mein Leben lang kannte, war bestrebt, diesen Brauch nicht wieder aufleben zu lassen. Auch der kirchliche Ermittler, der dem Fall nachgehen sollte, sprach mich in dieser Sache von jeder Schuld frei. Meine Teilhabe war mir aufgenötigt worden, von Personen, denen ich zu Gehorsam verpflichtet gewesen war. Mich zu bestrafen wäre seiner Ansicht nach so gewesen, als würde man einem Mann die Hand abschlagen, weil er ausgeraubt worden war. Also wurde ich in aller Form entlastet und mein Leben verschont.«

Ijada hörte aufmerksam zu; offenbar war sie an diesem Präzedenzfall sehr interessiert. Sie öffnete ein wenig die Lippen, wie um zu sprechen, schüttelte dann aber nur den Kopf.

Ingrey nickte ihr dankbar zu und fuhr fort: »Und doch konnte man mir nicht gestatten, einfach frei davonzuspazieren. Manchmal war ich ganz klar, müsst Ihr wissen, manchmal aber … An diese anderen Male konnte ich mich danach gar nicht mehr so richtig erinnern. Also versuchte unser Geistlicher, mich zu heilen.«

»Wie?«, fragte die Zauberin.

»Zuerst durch Gebete. Dann folgten Rituale, sämtliche alten Zeremonien, die er nur aufstöbern konnte. Ich habe den Verdacht, dass er auch selbst aus Bruchstücken von Überlieferung neue zusammensetzte. Aber nichts davon half. Dann versuchte er es mit Ermahnungen, Belehrungen, Predigten. Er und seine Akolythen wechselten sich über Tage hinweg ab. Das waren die ermüdendsten Versuche. Und zuletzt versuchten wir, den Wolf mit Gewalt auszutreiben.«

»Wir?« Hallana hob spöttisch die Augenbrauen.

»Es geschah nicht … nicht gegen meinen Willen. Zu diesem Zeitpunkt war ich verzweifelt und zu allem bereit.«

»Hm. Ja, ich kann …« Sie presste die Lippen zusammen. Nach einem langen Augenblick öffnete sie wieder den Mund und sagte: »Wie liefen diese Wolfsaustreibungen ab?«

»Wir haben alles versucht, was nicht gleich auf eine regelrechte Verstümmelung hinauslief. Hunger, Schläge und die Drohung mit Feuer und Wasser. Es konnte den Wolf nicht vertreiben, aber ich lernte schließlich, den Wolf zu beherrschen, und die Zeiten der Verwirrung wurden seltener.«