Sein Kiefer schob sich vor …
Nein. Nein! Ich verweigere mich dir, du Wolf in meinem Innern! Er drängte ihn zurück, biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen den Wolf, kämpfte gegen die Tentakel, gegen seinen Leib, seinen Geist, rutschte näher an das Schwert heran. Kämpfen … Töten … Irgendwas … Alles …
Die beanspruchte Kette verdrehte sich, und ein eiserner Stift zersprang wie ein dürrer Zweig. Seine Hand- und Fußgelenke waren immer noch gebunden, aber nicht mehr zusammengeschlossen. Er streckte den Leib und konnte plötzlich kriechen und rollen, sich krümmen und drehen. Sein Schwert war jetzt nahe. Panische Schritte eilten um ihn her.
Seine wirklichen Hände waren inzwischen schlüpfrig von Blut, genau wie sein zweiter Leib von diesem sonderbaren, roten Speichel, den die Ranken-Adern aus seinem Innern sogen und über ihn versprühten. Zu seinem Entsetzen spürte er, wie die Ketten über die glitschigen Gelenke glitten, über die zerrenden Hände. Wenn er seine Rechte befreite, das Schwert zu fassen bekam … ganz bestimmt würde niemand diesen Raum lebendig verlassen. Vielleicht nicht einmal er selbst.
Zuerst würde er den Kopf des jammernden Dieners abtrennen, mit einem einzigen Streich. Und sich dann den schreienden Frauen zuwenden. Ijada lag schon auf den Knien, wie bereit für den Henker. Strähnen ihres Haares hatten sich gelöst und fielen wie ein Schleier über ihr Gesicht. Eine wirbelnde Schwertklinge, die schwangere Frau … Sein Geist schreckte vor diesem Gedanken zurück, verleugnete ihn.
Heulte dann seinen Widerwillen heraus, so wild, dass diese Empfindung sich von seinem Innersten nach außen kehrte und endlich Zustimmung wurde. Hilf ihnen, rette sie, hilf mir, du Wolf in meinem Innern! Komm hervor, komm …
Wieder schoben seine Kiefer sich nach vorne, seine Zähne wurden zu scharfen, weißen Fängen. Er schnappte nach den Adersträngen und riss an ihnen, knurrte und schüttelte den Kopf, wie ein Wolf ein Kaninchen schütteln mochte, um ihm den Hals zu brechen. Das warme Blut spritzte in seinen Mund, und er spürte den Schmerz seiner eigenen Bisse. Er schnappte und zerrte, riss die Gebilde mitsamt ihrer blutigen Wurzeln aus sich heraus. Und dann war das Ding nicht mehr in seinem Innern, sondern lag vor ihm, wand sich wie ein bösartiges Meereswesen, das man an die tödliche Luft gezerrt hatte. Er trat mit bloßen, klauenbewehrten Pfoten danach. Die Leopardin schlug und wälzte das kreischende Etwas über den Boden.
Für kurze Zeit war es lebendig. Dann starb es.
Und dann war es verschwunden.
Die zweite Welt seiner Vision verging, oder sie verband sich wieder mit der ersten; alle Dinge verschmolzen miteinander. Die Leopardin verschwand in Ijada, sein Wolfsgebiss … wohin?
Sein Körper sackte zusammen. Er lag dicht bei der Tür auf dem Rücken, die Knöchel noch immer gefesselt, doch die blutigen Hände frei. Bernan stand über ihm. Sein Gesicht war so blass wie Pergament, und er hielt eine Brechstange in den zitternden Händen.
Schweigen breitete sich aus.
»Nun«, stellte Hallana mit ihrer hellen Stimme fest, in der diesmal deutliche Anspannung mitschwang. »Das sollten wir lieber nicht noch einmal tun …«
Polternde Schritte erklangen auf dem Flur, gefolgt von einem fordernden Klopfen an der Tür. »Hallo?«, rief Ingreys Krieger aufgeregt. »Alles in Ordnung da drinnen? Lord Ingrey?«
Die ängstliche Stimme der Zofe war zu vernehmen: »War das wirklich er, der da so geheult hat? Oh, beeilt euch doch! Brecht die Tür auf!«
»Wenn ihr meine Tür aufbrecht, müsst ihr sie auch bezahlen«, meldete sich eine dritte Stimme zu Wort. »He, da drinnen! Macht auf!«
Ingrey dehnte und lockerte seinen Kiefer, einen gewöhnlichen, menschlichen Kiefer, keine Schnauze. Mit heiserer Stimme krächzte er: »Mir geht es gut.«
Hallana stand steif und schwer atmend da und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf ihn. »Ja«, rief sie laut. »Lord Ingrey … ist gestolpert und hat den Tisch umgekippt. Hier drin herrscht ein ziemliches Durcheinander. Wir kümmern uns darum. Macht euch keine Sorgen.«
»Ihr klingt aber nicht so, als würde es Euch gutgehen.«
Ingrey schluckte, räusperte sich und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich komme gleich runter in die Schankstube. Die Bediensteten der Geistlichen werden sich um das … das Durcheinander hier kümmern. Wartet unten.«
»Wir kümmern uns um seine Verletzungen«, fügte Hallana noch hinzu.
Es folgte ein verblüfftes Schweigen, dann eine halblaute Auseinandersetzung. Schließlich entfernten die Schritte sich wieder.
Jedem in der Stube schien sich ein erleichterter Seufzer zu entringen — außer Bernan, der immer noch das Brecheisen schwang. Ingrey lag kraftlos auf den Dielen; er fühlte sich, als wäre jeder seiner Knochen zu Pudding geworden. Ihm war übel. Nach einigen Augenblicken hob er die Hände. Die Ketten hingen schwer vom linken Handgelenk herab; die blutverschmierte Rechte war frei. Er starrte sie an und verstand kaum, warum die Haut dort so aufgerissen und von pochendem Schmerz erfüllt war. Zwischen den Haaren spürte er ein unangenehmes, feuchtes Prickeln und schloss daraus, dass er sich bei seinem wilden Toben die frische Naht aufgerissen hatte.
Wenn das so weitergeht, bin ich tot, noch bevor wir in Ostheim ankommen. Ob Lady Ijada mich nun überlebt oder nicht.
Ijada … Sorge stieg in ihm auf, und er fuhr herum. Bernan gab einen warnenden Laut von sich und hob die Brechstange.
Ijada lag immer noch auf den Knien, ein oder zwei Schritte entfernt. Ihr Gesicht war blass, die Augen weit aufgerissen und die Pupillen geweitet.
»Bernan, nein!«, rief sie. »Er ist jetzt in Ordnung. Es ist fort.«
»Ich habe schon mal einen Mann gesehen, der unter Fallsucht litt«, stellte Hallana in abwesendem Tonfall fest. »Aber das hier war ganz eindeutig etwas anderes.« Sie wagte sich wieder näher an Ingrey heran und schritt um ihn herum. Prüfend schaute sie über ihren Bauch hinweg auf ihn.
Mit Blick auf die Brechstange rollte Ingrey sich ganz langsam und vorsichtig auf die Seite, um einen besseren Blick auf Ijada zu haben. Diese Bewegung ließ das Gemach vor seinen Augen pulsieren, und sein Ächzer klang eher wie ein Stöhnen oder ein Wimmern. Ijada sprang auch nicht gerade auf die Füße. Schlaff setzte sie sich zurück und stützte sich auf die Hände, um sich aufrecht zu halten. Sie wurde auf seinen Blick aufmerksam, holte tief Luft und richtete sich auf. »Alles in Ordnung«, verkündete sie, obwohl niemand danach gefragt hatte. Alle anderen waren noch von Ingreys spektakulärer Darbietung gebannt gewesen.
Jetzt blickte Hallana sich nach Ijada um. »Was hast du gerade wahrgenommen? «
»Ich bin auf die Knie gefallen — ich kniete die ganze Zeit auf dem Boden, hier, in diesem Gemach. Aber gleichzeitig war ich plötzlich in Leopardengestalt. In der Geistergestalt eines Leoparden. Ich habe stets gewusst, dass es kein Körper aus Fleisch und Blut war. Aber, ach, er war so stark! Prachtvoll. Meine Sinne waren auf unglaubliche Weise geschärft. Ich konnte sehen! Aber ich war stumm … nein, mehr als stumm. Ohne Sprache. Wir waren an irgendeinem weitläufigeren Ort, oder ganz außerhalb jeden Raumes. Es war so viel Platz da, wie man eben brauchte. Ihr«, sie wandte sich Ingrey zu, »wart schon vor mir an diesem Ort. Irgendwelche blutroten Schrecknisse wucherten aus Eurem Leib. Sie schienen ein Teil von Euch zu sein, und doch griffen sie Euch an. Ich bin auf sie losgegangen und habe versucht, sie von Euch abzubeißen. Sie haben mir das Maul verbrannt. Und dann habt Ihr Euch in einen Wolf verwandelt, oder in eine Mischung zwischen Mensch und Wolf, eine eigentümliche Chimäre. Es sah fast so aus, als könne Euer Leib sich nicht für eine Gestalt entscheiden. Schließlich habt Ihr einen Wolfskopf ausgebildet und auch nach den roten Rankenwesen geschnappt.« Mit neuem Interesse blickte sie ihn von der Seite her an.