Und wenn diese alten Krieger im Anschluss daran ebensolche Schmerzen gelitten hatten, hegte Ingrey seine Zweifel, ob diese Tiergeister wirklich dermaßen geschätzt wurden. Wenn die Waldstämme sich so verhalten hatten wie er eben … Er wollte nach den Geräuschen fragen, die er gemacht hatte, schämte sich aber zu sehr.
»Wenn es etwas zu sehen gab, hätte ich es sehen sollen«, fuhr Hallana in wachsender Verzweiflung fort und ließ sich auf einen leeren Stuhl sinken. »Verflixt, verflixt. Lasst uns nachdenken.« Nach einer Weile blickte sie Ingrey an und kniff die Augen zusammen. »Ihr sagt, das Ding ist nun fort. Wenn wir schon nicht feststellen können, was es war — erinnert Ihr Euch dann wenigstens daran, wer Euch damit belegt hat?«
Ingrey beugte sich vor und rieb sich die juckenden Augen. Er hatte den Verdacht, dass sie blutunterlaufen waren. »Ich sollte besser diese Stiefel loswerden.« Auf Hallanas Wink kniete Bernan nieder und half Ingrey, sie abzulegen. Die Knöchel darunter schwollen tatsächlich schon an, und deutliche Blutergüsse zeichneten sich unter der Haut ab. Einen Augenblick blickte Ingrey wie gebannt darauf.
»Ich habe nichts von dem Bann gespürt, ehe ich Ijada zum ersten Mal erblickte«, erklärte er schließlich. »Ich hätte ihn genauso gut seit Tagen mit mir herumtragen können, oder seit Monaten oder gar Jahren. Zunächst glaubte ich tatsächlich, es wären Jahre … ich machte meinen Wolf dafür verantwortlich. Hätte Ijada nicht etwas anderes behauptet, und hätte ich nicht selbst erlebt, was gerade geschehen ist, würde ich es vielleicht immer noch glauben. Hätte ich es tatsächlich geschafft, sie zu töten, wäre ich vermutlich mein Leben lang davon überzeugt gewesen, dass mein Wolf dafür verantwortlich ist.«
Hallana kaute auf der Unterlippe. »Denkt noch mal gründlicher darüber nach. Ein Zwang, Eure Gefangene umzubringen, wurde Euch vermutlich erst auferlegt, nachdem die Nachricht von Bolesos Tod in Ostheim eingetroffen war und bevor Ihr dann nach Keilerkopf aufgebrochen seid. Vorher gab es keinen Grund und danach keine Gelegenheit. Mit wem hattet Ihr während dieses Zeitraums Kontakt?«
So ausgedrückt, wurde die Sache nur noch beunruhigender. »Mit nur wenigen Leuten. Ich wurde des Abends in Lord Hetwars Räumlichkeiten gerufen. Der Bote war noch anwesend, außerdem Hetwar, sein Sekretär und Prinz Rigild, der königliche Seneschall. Außerdem der Graf von Dachswall, Wenzel von Rossfluten, Lord Alca von der Otterwinde, die Brüder von Keilerstritt … Wir sprachen nur kurz miteinander, als Lord Hetwar mich vom Tod des Prinzen in Kenntnis setzte und mir meine Befehle erteilte.«
»Die da lauteten?«
»Bolesos Leichnam überführen. Seine Mörderin herbeischaffen …« Ingrey zögerte. »Dafür sorgen, dass nicht zu viel über die Umstände seines Ablebens bekannt wird.«
»Was sollte das denn bedeuten?«, fragte Ijada verwirrt.
»Ich sollte alle Hinweise auf Bolesos Unbesonnenheiten verschwinden lassen.« Und damit auch sein Opfer und den Anlass seines Todes?
»Was? Aber dient Ihr nicht der königlichen Gerechtigkeit?«, stellte sie entrüstet fest.
»Genau genommen diene ich dem Siegelbewahrer Hetwar«, erwiderte er bedächtig. »Und Hetwars unerschütterliches Anliegen ist es, stets den Bedürfnissen des Weald und seiner königlichen Familie zu dienen.«
Ijada schwieg und kniff die Augenbrauen zusammen.
Die Tempelzauberin spielte mit einem Finger an ihrer Unterlippe. Sie zumindest wirkte nicht schockiert von Ingreys Äußerungen. Aber als sie erneut das Wort ergriff, hatten ihre Gedanken anscheinend schon wieder eine ganz andere Richtung eingeschlagen. »Nichts aus der spirituellen Welt kann in der grobmateriellen Welt Bestand haben, ohne dass ein Geschöpf der Materie ihm Nahrung gibt. Ein Zauberer kann seine Zauber mit Hilfe seines Dämons aufrechterhalten. Der Dämon ist zwar für den Zauber notwendig, aber allein nicht ausreichend: Er muss seine Kraft aus dem Körper des Zauberers nähren können. Aber Euer Bann wurde von Euch selbst genährt. Ich vermute also … hm. Um es mit deinen Worten auszudrücken, Ijada, eine Art parasitäre Magie? Der Zauber wurde Euch irgendwann auferlegt und bezog seine Kraft danach aus Eurer Lebensenergie. Wenn diese Magie überhaupt eine Ähnlichkeit mit der meinen hat, fließt sie wie Wasser stets bergab: Sie kann nichts selbst hervorbringen, sondern muss ihre Fähigkeiten schon bei ihrem Wirt vorfinden und sie rauben können.«
Ingrey sah die innere Logik dieses Gedankenganges, aber es war eigentlich keine Schlussfolgerung, die er in Ijadas Gegenwart ausgesprochen hören wollte. Viele Männer besaßen die Fähigkeit, nach Gutdünken ihrer Herren zu töten. Allerdings fand der einzige Zauber, der in der Regel dafür nötig war, in einer wohlgefüllten Börse Platz. Als Wachsoldat war er stets bereit gewesen, zum Schutz seines Herrn das Schwert zu ziehen, jederzeit — und war das nicht letztlich dasselbe?
»Aber …« Ijadas wohlgeformte Lippen wurden schmal, als sie sie nachdenklich zusammenkniff. »Siegelbewahrer Hetwar muss Hunderte von Kriegern zu seiner Verfügung haben, Soldaten, Meuchelmörder. Ein halbes Dutzend Männer seiner Wache sind in Eurer Begleitung geritten. Die Person, wer auch immer, die diesen Bann auf Euch gelegt hat, hätte das ebenso gut bei einem der anderen tun können. Warum sollte ausgerechnet der einzige Mensch in Ostheim zu mir geschickt werden, von dem jeder weiß, dass er einen Tiergeist in sich trägt?«
Kurz blitzte eine Regung in Hallanas Gesicht auf und verschwand wieder. Erkenntnis? Befriedigung? Mit neu erwachter Aufmerksamkeit lehnt sie sich zurück, vermutlich nur deshalb, weil sie sich nicht aufmerksamer vorbeugen konnte. »Ist sie so weithin bekannt, Eure spirituelle Heimsuchung?«, fragte sie Ingrey.
Ingrey zuckte die Achseln. »Es wird viel darüber geklatscht, ja, und es wird auf die unterschiedlichste Weise verzerrt und entstellt. Mein Ruf ist nützlich für Hetwar. Ich bin keine Person, der man gerne über den Weg laufen möchte.« Oder mit der man gesellschaftlich verkehrt, die man zum Essen einlädt und die man insbesondere nicht der weiblichen Verwandtschaft vorstellt. Aber daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Ijada riss die Augen auf. »Ihr wurdet ausgewählt, weil jeder Euren Wolf dafür verantwortlich machen würde! Hetwar hat Euch ausgewählt. Also muss er auch für den Bann verantwortlich sein.«
Dieser Gedanke gefiel Ingrey gar nicht. »Nicht unbedingt. Lord Hetwar hatte sich bereits eine ganze Weile mit den anderen beraten, bevor ich hinzugerufen wurde. Jeder in dem Gemach hätte mich für diese Aufgabe vorschlagen können.« Die Sache mit dem Wolf klang allerdings nur allzu glaubwürdig. Ingrey selbst hätte bereitwillig dem Wolf in seinem Innern die Schuld am Tod der Gefangenen zugeschrieben. Er hätte selbst auch noch eine solche Anklage unterstützt, anstatt sich zu verteidigen. Wenn er selbst überhaupt den Anschlag auf Ijada überlebt hätte. Er erinnerte sich noch gut an sein gestriges und beinahe tödliches Bad im Fluss. Auf die eine oder andere Weise hätte man sowohl das Opfer wie auch das Werkzeug leicht zum Schweigen bringen können.
Zwei überaus unangenehme Gedanken drängten sich ihm auf: Zum einen wurde er sich bewusst, dass er immer noch Lady Ijada ihrem möglichen Tod entgegenführte. Das Ertrinken im Fluss wäre auch nicht schlimmer gewesen, als wenn sie später irgendwann in ihrer Zelle vergiftet oder erwürgt wurde, und es wäre vermutlich noch hundertmal gnädiger gewesen als die Bedrängnis durch einen zweifelhaften Prozess und die spätere Hinrichtung.
Und der andere Gedanke war der, dass ein Feind mit ebenso großen wie geheimen Kräften überaus verärgert sein würde, wenn sie beide lebendig in Ostheim eintrafen.