Kapitel Sechs
Ingrey erwachte schweißgebadet aus einem Albtraum, an den er sich nur noch schwach erinnern konnte. Er blinzelte im Morgenlicht, das flach durch das Gaubenfenster in seine kleine, jedoch abgeschiedene Schlafkammer hoch unter dem Dach des Gasthauses einfiel. Morgendämmerung. Zeit aufzustehen.
Die Bewegung weckte den Schmerz in seinem überbeanspruchten Leib, und das schien so ziemlich jeden Muskel zu betreffen, den er besaß. Hastig ließ er sich wieder zurücksinken, aber das brachte keine Erleichterung. Behutsam wandte er den Kopf, während der brennende Schmerz in seinem Hals wühlte, und beäugte die Falle, die er am Boden vor der Tür aus Geschirr aufgestapelt hatte. Der wacklige Haufen wirkte unversehrt. Ein gutes Zeichen.
Die Verbände an den Gelenken und um die rechte Hand hielten noch, auch wenn sie von bräunlichem Blut durchtränkt waren. Ingrey bewegte prüfend die Finger. Nun. Der gestrige Abend war also kein Traum gewesen, trotz der albtraumhaften Visionen, die er mit sich gebracht hatte. Als die Erinnerungen zurückkehrten, verkrampfte sich sein Magen vor Sorge.
Ächzend kämpfte er sich wieder hoch, kroch aus dem Bett und taumelte zum Waschtisch. Mit der Linken spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, fühlte sich danach aber auch nicht munterer. Er zog die Hose an, setzte sich auf die Bettkante und versuchte es mit den Stiefeln. Sie ließen sich nicht über die geschwollenen Knöchel ziehen. Ingrey gab auf und ließ die Stiefel zu Boden gleiten. Bedächtig sank er wieder auf die zerwühlten Laken nieder. Irgendwie schien man den Verstand in seinem Kopf durch ein Summen ersetzt zu haben.
Er blieb eine weitere Zeitspanne liegen, die vielleicht der halben Drehung eines Stundenglases entsprach, dem Kriechen der sonnenhellen Vierecke auf der Wand nach zu urteilen. Das Einzige, was sein Verstand in dieser Zeit hervorbrachte, war ein erbitterter Groll gegen die nutzlosen Stiefel.
Die Tür knarrte in den Angeln; das Klappern des Geschirrstapels wurde von Ritter Gescas erschrockenen Flüchen übertönt. Ingrey blickte aus zusammengekniffenen Augen zur Tür. Gesca machte ein verwirrtes Gesicht und suchte sich einen Weg zwischen umherspringenden Bechern und Tellern hindurch. Der Offizier war reisefertig angekleidet, trug Stiefel und Reithose und Hetwars schieferblauen Wappenrock. Er hatte sich den feierlichen Umständen ihrer Reise entsprechend zurechtgemacht: Sein dunkelblondes Haar war gekämmt, sein freundliches Gesicht frisch rasiert. Bestürzt blickte er auf Ingrey. »Lord Ingrey?«
»Ah. Gesca. Wie geht es unserem Schweine-Jungen heute Morgen?«
Gesca schüttelte den Kopf und schien sich nicht zwischen Sorge und Zorn entscheiden zu können. »Gegen Mitternacht ließ der Wahn nach. Wir haben ihn zu Bett gebracht.«
»Gib Acht, dass er der Gelehrten Hallana nicht zu nahe kommt oder sie gar noch einmal beleidigt.«
»Ich glaube nicht, dass das ein Problem sein wird.« Mit besorgtem Blick musterte er die Verbände und Schrammen. »Was ist gestern mit Euch geschehen, Lord Ingrey?«
Ingrey zögerte. »Was erzählt man sich denn?«
»Man sagt, ihr hättet Euch mit dieser Zauberin für einige Stunden eingeschlossen, als plötzlich ein großes Spektakel aus dem Gemach zu vernehmen war … ein Heulen und Poltern, das unten den Putz von der Decke rieseln ließ, und Geschrei. Es hörte sich an, als würde irgendjemand umgebracht.«
Beinahe …
»Die Zauberin kam später mit ihren Dienern heraus, als wäre gar nichts geschehen. Ihr seid humpelnd abgezogen, habt aber kein Wort gesprochen.«
So gut er konnte, rief Ingrey sich die Entschuldigungen ins Gedächtnis, die Hallana durch die Tür gerufen hatte. »Ja. Ich hatte gerade einen Schinken in der Hand und ein Tranchiermesser, und dann stolperte ich über einen Stuhl.« Nein, sie hatte nicht von einem Stuhl gesprochen. »Habe den Tisch umgekippt. Mich in die Hand geschnitten, als ich gestürzt bin.«
Gesca blickte noch verwirrter, als er sich vorzustellen versuchte, wie so etwas zu der eigentümlichen Anordnung von Verbänden und Verletzungen führen konnte, die Ingrey zeigte. »Nun, wir sind gleich bereit, Prinz Bolesos Sarg wieder aufzuladen. Der Geistliche von Rottwall will ihn noch segnen. Könnt Ihr reiten? Nach Eurem Unfall?« Er dachte einen Augenblick nach und berichtigte sich dann: »Unfällen.«
Sehe ich so schlimm aus? »Hast du dem Botenreiter des Tempels meine Nachricht an Lord Hetwar übergeben?«
»Ja. Die Botin ist mit dem ersten Tagesritt aufgebrochen.«
»Dann … sag den Männern, sie können wegtreten. Ich warte auf Befehle. Die brauchen ohnehin Zeit. Wir nehmen uns einen Tag, um die Pferde ausruhen zu lassen.«
Gesca antwortete mit einer zustimmenden Geste, doch in seinen Augen war die Frage zu lesen, warum Ingrey während zweier langer Tage Mensch und Tier bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angetrieben hatte, nur um die so gewonnene Zeit nun müßig zu verschwenden. Er hob das Geschirr auf und stellte es auf dem Waschtisch ab, dann ging er nach einem weiteren verwirrten Blick auf Ingrey hinaus.
Ingrey hatte sein letztes Schreiben an Lord Hetwar gestern aufgesetzt, unmittelbar nach ihrer Ankunft. Darin hatte er das Eintreffen des Leichenzuges in Rottwall gemeldet und zugleich darauf gedrängt, in seinem Kommando abgelöst zu werden. Als Vorwand hatte er angegeben, dass er nicht in der Lage sei, das nötige Zeremoniell für die Überführung des prinzlichen Leichnams gewährleisten zu können.
Zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes hatte Ingrey natürlich noch nichts über die Tempelzauberin schreiben können, oder zu den späteren Ereignissen in dieser Stube im Obergeschoss. Aber er hatte auch nicht den Vorfall am Fluss erwähnt, oder überhaupt etwas über seine Gefangene berichtet. Voll Unbehagen wurde er sich seiner Pflicht bewusst, dem Siegelbewahrer wahrheitsgemäß Bericht zu erstatten, doch diese Empfindung lag nun im Widerstreit mit seinen Ängsten. Mit Ängsten und mit Zorn. Wer hat mir diesen grotesken Bann auferlegt, und wie? Warum wollte man mich zu einem willenlosen Werkzeug machen?
Und kann das wieder geschehen?
Obwohl die Angst seinen Zorn weiter anstachelte, empfand er jetzt zusätzliche Furcht vor seinem eigenen Ärger. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ seine Schläfen pochen. Er lag auf dem Rücken und versuchte, sich wieder an die Übungen zu erinnern, mit denen er unter heiligen Qualen in Birkenhain gelernt hatte, seinen Wolf zu zähmen. Nach und nach zwang er die schmerzenden Muskeln, sich wieder zu entspannen.
Gestern Abend war sein Wolf entfesselt worden. Er selbst hatte ihn entfesselt. War er heute Morgen wieder gebunden? Und wenn nicht … was dann? Ungeachtet der Schmerzen in seinem Leib fühlte er sich nicht viel anders als an jedem anderen Morgen während seines Lebens als Erwachsener. War also sein unentschlossenes Zögern hier in Rottwall nur eine alte Gewohnheit, oder war es vernünftig? War es einfach nur umsichtig, wenn er in seiner gegenwärtigen, gefährlichen Ahnungslosigkeit nicht weiter nach Ostheim ziehen wollte? Seine körperlichen Verletzungen waren eine glaubwürdige Ausrede, hinter der er sich verstecken konnte. Aber war es die Tarnung eines Jägers oder die Zuflucht eines Feiglings? Seine Gedanken drehten sich wie in einem Käfig.
Ein weiteres Klopfen an der Tür unterbrach die Unruhe, in die er sich allmählich hineinsteigerte. Eine scharfe Frauenstimme fragte: »Lord Ingrey? Ich muss Euch sprechen.«
»Ah, Hergi. Komm herein.« Zu spät erinnerte Ingrey sich daran, dass er noch gar kein Hemd angezogen hatte. Aber vermutlich war sie ohnehin eine heilkundige Schwester aus dem Orden der Mutter und keine schamhafte Jungfrau. Trotzdem wäre es höflich, wenn er sich zumindest aufsetzte.
»Hm.« Sie kniff die Lippen zusammen, als sie neben seine Bettstatt trat und ihn musterte, mit einem gelassenen, fachkundigen Funkeln in den Augen. »Ritter Gesca hat nicht übertrieben. Nun, es hilft alles nichts: Ihr müsst aufstehen. Die gelehrsame Dame will mit Eurer Gefangenen sprechen, bevor sie abreist, und ich will sie so schnell wie möglich wieder auf dem Heimweg sehen. Wir hatten schon genug Ärger auf der Hinreise; vor der Rückfahrt graut mir bereits. Kommt schon. Ach du meine Güte. Moment mal, zuerst machen wir am besten …«