Schwungvoll stellte sie die Ledertasche auf dem Waschtisch ab und wühlte darin. Schließlich brachte sie eine kantige, blaue Glasflasche zum Vorschein und zog den Korken heraus. Sie schüttete trüben Sirup auf einen Löffel, und als Ingrey sich auf einen Ellbogen aufstützte und fragte: »Was ist das?«, schob sie ihm den Löffel auch schon in den Mund. Die Flüssigkeit schmeckte grauenhaft. Eingeschüchtert von ihrem entschlossenen Blick, schluckte er runter.
»Ein Auszug aus Mohn und Weidenrinde, Weingeist und ein paar anderen hilfreichen Dingen.« Sie musterte ihn von oben bis unten, schürzte die Lippen und verabreichte ihm einen weiteren Löffel. Dann nickte sie knapp und verkorkte die Flasche wieder. »Das sollte reichen.«
Ingrey schluckte die Medizin und auch das, was daraufhin aus seinem Magen wieder hochkam. »Das ist ja abscheulich!«
»Ihr werdet Eure Meinung schnell genug ändern, das verspreche ich Euch. Und nun schauen wir mal, wie sich meine Arbeit noch so macht.«
Mit geübten Bewegungen wickelte sie die Verbände ab, besah sich die Wunden, trug Salbe auf und legte frische Verbände an; sie beschmierte die Naht zwischen seinen Haaren mit irgendetwas, das brannte; dann kämmte sie ihn, wusch ihm den Oberkörper, rasierte ihn und schlug seine Hände beiseite, als er sich selbst zurechtmachen wollte. »Ihr werdet meine neuen Verbände gleich wieder nass machen! Und wehrt Euch nicht ständig. Ich dulde nicht, dass wir wegen Euch noch später hier wegkommen.«
Schon seit seinem sechsten Lebensjahr war er nicht mehr auf diese Weise von einer Frau angekleidet worden, doch seine Schmerzen verebbten und wichen wohliger Mattigkeit. Er setzte sich nicht mehr zur Wehr. Benommen dämmerte ihm, dass die Entschlossenheit, mit der sie hier zu Werke ging, nichts mit ihm zu tun hatte.
»Geht es der Gelehrten Hallana gut? Nach gestern Abend?«, fragte er vorsichtig.
»Der Säugling dreht sich. Kann einen Tag dauern oder eine Woche. Aber zwischen hier und Neresblatt liegen fünfundzwanzig Meilen Straße, und ich wünschte mir, die Herrin wäre jetzt schon sicher zu Hause. Nur dass wir uns richtig verstehen, Lord Ingrey: Lasst es Euch bloß nicht einfallen, irgendetwas zu unternehmen, was sie hier aufhält. Was immer sie von Euch verlangt, gebt es ihr ohne lange Diskussionen. Wenn’s Euch recht ist.« Sie schnaufte grimmig.
»Jawohl, Herrin«, sagte Ingrey demütig. Nach einem kurzen Blinzeln setzte er hinzu: »Der Trank scheint sehr gut zu wirken. Kann ich die Flasche behalten?«
»Nein.« Sie kniete bei seinen Füßen nieder. »Oh. Eure Stiefel passen nicht mehr, oder? Habt Ihr auch andere Schuhe dabei …?« Rücksichtslos wühlte sie in seinen Satteltaschen, bis sie schließlich ein Paar abgetragener Schnürstiefel fand, die sie ihm über die Füße zerrte. »Und jetzt auf mit Euch!«
Der Schmerz, als sie an seinen Armen zog, wirkte seltsam fern, wie Nachrichten aus einem anderen Land. Unbarmherzig zerrte sie ihn durch die Tür.
Die Zauberer-Heilkundige wartete bereits in der Schankstube von Ijadas Gasthaus am anderen Ende der Hauptstraße von Rottwall. Mit Blick auf die Verbände fragte Hallana höflich: »Ich hoffe, Ihr habt Euch heute Morgen schon ein wenig erholt …?«
»Ja, danke. Eure Medizin hat mir sehr geholfen. Obwohl es ein eigenartiges Frühstück abgab.« Er lächelte sie an — ein wenig benebelt, wie er befürchtete.
»Oh. Das ist es.« Sie wandte sich Hergi zu. »Wie viel …?« Hergi streckte zwei Finger in die Höhe. Die Geistliche hob die Augenbrauen. Ingrey wusste nicht, ob diese Geste einen Tadel oder Billigung ausdrückte, denn Hergi zuckte zur Antwort nur die Achseln.
Ingrey folgte den beiden Frauen erneut die Treppe hinauf, und die Zofe ließ sie, wenn auch ein wenig misstrauisch, in die Stube vor. Ingrey hielt verstohlen nach Spuren seiner gestrigen Raserei Ausschau, fand aber nur noch einige schwache Blutflecken und Kerben auf den Dielenbrettern. Ijada hörte sie hereinkommen und trat aus dem Schlafgemach. Sie trug dasselbe graublaue Reitkleid wie gestern, hatte aber ihre Stiefel gegen leichtere Lederschuhe getauscht. Voller Unbehagen musterte Ingrey ihr blasses Gesicht. Sie erwiderte den Blick nüchtern und nachdenklich.
Mit noch größerem Unbehagen prüfte Ingrey seine eigenen, veränderten Wahrnehmungen. Ijada kam ihm heute … anders vor. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Mehr traf es besser. Sie strahlte eine Kraft und Schwere aus, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein berauschender, warmer Duft ging von ihr aus, wie von trockenem Gras im Sonnenlicht. Unwillkürlich öffneten sich seine Lippen, um diesen Sonnen-Duft besser schmecken zu können — ein vergebliches Bemühen, denn er wurde nicht mit der Luft herangetragen.
Auch Hallana hatte mehr als nur einen Hauch des Übernatürlichen an sich, eine Schwindel erregende Geschäftigkeit, die zum Teil von ihrer Schwangerschaft herrührte, in erster Linie aber von einem gedämpften Wirbel, der so roch wie ein Windstoß nach einem Blitzschlag. Ingrey ging davon aus, dass es sich dabei um ihren Dämon handelte.
Die beiden gewöhnlichen Frauen, Hergi und die Zofe, wirkten im Vergleich plötzlich dünn und flach und trocken, wie Strichzeichnungen auf Papier.
Die Gelehrte Hallana umarmte Ijada und drückte ihr einen Brief in die Hand.
»Ich muss bald aufbrechen, sonst kommen wir nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit an«, sagte die Geistliche. »Ich wünschte, ich könnte dich stattdessen begleiten. Das alles ist so beunruhigend, vor allem …« Sie nickte in Ingreys Richtung und erinnerte damit an den Bann, unter dem er gestanden hatte. Ingrey konnte bei ihren Worten nur zustimmend nicken. »Das allein würde es schon zu einer Angelegenheit der Kirche machen, auch ohne … nun, nicht so wichtig. Mögen die fünf Götter deine Reise behüten. Ich habe hier ein Schreiben für den Leiter meines Ordens in Ostheim, in dem ich ihn darum bitte, sich mit deinem Fall zu beschäftigen. Mit etwas Glück kann er da weitermachen, wo ich nun abbrechen muss.« Mit einem misstrauischen Zug um den Mund blickte sie wieder zu Ingrey. »Ich lege es auch in Eure Verantwortung, Lord Ingrey, dafür zu sorgen, dass dieser Brief seinen Empfänger erreicht, und niemand anderen.«
Er öffnete die Hand zu einer unbestimmten Geste der Bestätigung, und Hallana kniff die Lippen noch fester zusammen. In Hetwars Diensten hatte er gelernt, Briefe zu öffnen und abzuschreiben, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie diese Fertigkeiten auch bei ihm vermutete. Und doch war der Bastard der Gott der Spione; was für Fertigkeiten mochte da eine Seiner Zauberinnen beherrschen? Und an welche ihrer beiden Kirchen wollte sie sich wenden? Wenn sie allerdings das Schreiben mit einem Zauber geschützt hatte, konnte Ingrey ihn selbst mit seinen neu erwachten Fähigkeiten nicht wahrnehmen.
»Gelehrte …« Ijadas Stimme klang plötzlich dünn und unsicher. Gelehrte, nicht Liebe Hallana, bemerkte Ingrey. Hergi stand schon wachsam bereit, ihre Herrin hinauszugeleiten. Sie verzog verärgert das Gesicht, als die Geistliche sich wieder umwandte.
»Ja, Kind?«
»Nein … macht Euch keine Gedanken. Es ist nichts. Närrisches Zeug.«
»Vielleicht lässt du lieber mich das beurteilen.« Hallana ließ sich auf einem Stuhl nieder und legte auffordernd den Kopf schief.
»Letzte Nacht hatte ich einen sehr eigenartigen Traum.« Ijada trat unruhig vor und zurück; dann ließ sie sich auf dem Fenstersitz nieder. »Einen neuen.«