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Er stand dicht hinter Ijada und blickte über ihre Schulter. Mit Leichtigkeit hätte er ihr die Hand in den Nacken legen können, wo das Haar von einem Netz zusammengehalten wurde und die blasse Haut freigab. Eine lose Strähne dort erzitterte in seinem Atemzug, und doch trat sie nicht von ihm fort. Sie wandte sich allerdings um und schaute ihn an. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Furcht, keine Ablehnung, nur intensive Aufmerksamkeit.

Und doch hatte sie nicht nur dieses andere abscheuliche Ding gesehen, sondern auch seinen Wolf. Seine Heimsuchung, die Wildheit, die drohend in ihm verborgen lag, war für sie nun nicht mehr ein bloßes Gerücht oder irgendwelcher Klatsch, sondern ein unmittelbares Erleben. Unbestreitbar. Sie bestreitet nichts. Weshalb zuckt sie nicht vor mir zurück?

Seine Wahrnehmung wirbelte durcheinander. Umgekehrt: Was empfindest du in Bezug auf ihre Katze? Er hatte sie ebenfalls gesehen, in dieser anderen Wirklichkeit, so deutlich wie sie seine wölfische Seite wahrgenommen hatte. Logischerweise sollte ihre Heimsuchung der seinen entsprechen, und doch hatte ein Gott sie des Nachts aufgesucht, und die bloße Berührung Seines Mantels schien einen Hauch der Ekstase zu versprechen. All die theologischen Theorien der Geistlichen, die Ingrey sich hatte anhören müssen, verblassten vor einer überwältigenden Tatsache, die sich gerade eben dem Zugriff seines Verstandes entzog. Die Tierseele in ihrem Innern hatte strahlend schön gewirkt. Wie es schien, hatte der Schrecken heute mit einem Mal eine neue und verlockende Seite gewonnen, die Ingrey nie zuvor darin vermutet hätte.

»Lord Ingrey«, sagte sie, und ihre leise Stimme versetzte sein Blut in Wallung. »Ich würde gerne dem Rat der Gelehrten Hallana folgen und mich zum Gebet in den Tempel zurückziehen.« Sie warf ihrer Zofe einen argwöhnischen Blick zu. »Allein.«

Sein Verstand setzte sich wieder in Bewegung. Es wäre vollkommen unverdächtig, wenn er seine Gefangene ohne ihre Aufpasserin in den Tempel begleitete. Zu dieser Stunde würde das Gebäude beinahe menschenleer sein, und sie konnten ungestört miteinander reden. »Niemand könnte etwas einwenden, wenn ich Euch zum Altar der Götter geleite, damit Ihr dort um ihre Gnade bitten könnt, verehrte Dame.«

Sie verzog das Gesicht. »Um Gerechtigkeit bitten würde es besser treffen.«

Er trat ein wenig von ihr fort und nickte zustimmend. Dann wandte er sich um und gab ihrer Zofe zu verstehen, dass sie sich in der nächsten Stunde ihren eigenen Angelegenheiten widmen konnte. Dann führte er Ijada aus der Stube.

Auf der Straße legte Ijada die Hand auf Ingreys Ellbogen und suchte sich bedächtig ihren Weg über die feuchten Pflastersteine. Sie schaute ihn nicht an. Schließlich ragte der Tempel vor ihnen auf, errichtet aus den grauen Steinen dieser Gegend und in Größe, Bauweise und Festigkeit typisch für die Regierungszeit von Audars Enkel, bevor die darthacischen Eroberer unter Beweis stellten, dass sie sich auch in blutigen Bürgerkriegen selbst zugrunde richten konnten.

Sie schritten an den eisernen Toren vorbei in den hoch ummauerten, stillen Tempelbezirk und unter das gewaltige, säulengetragene Vordach.

Die Innenräume waren kühl und dämmrig, verglichen mit dem hellen Morgen draußen, und eng umgrenzte Streifen aus Sonnenlicht fielen durch die runden Fenster, die hoch unter der Decke lagen. Drei oder vier Personen hielten sich im Schrein der Mutter auf, kniend oder flach auf dem Boden liegend. Ijadas Griff an Ingreys Arm versteifte sich kurz, und er folgte ihrem Blick durch den Torbogen in den Schrein des Vaters. Dort stand Bolesos Sarg aufgebockt, mit Brokatstoff zugedeckt und bewacht von Angehörigen der Bürgerwehr von Rottwall. Aber sowohl der Schrein der Tochter wie auch der des Sohnes waren zu dieser frühen Stunde leer, und Ijada wandte sich dem des Sohnes zu.

Anmutig fiel sie vor dem Altar auf die Knie. Ingrey folgte ihrem Beispiel — deutlich weniger anmutig — und hockte sich dann auf die Fersen. Die Fliesen waren kalt und hart. Stille entstand, während Ijada den Blick nach oben wandte. Bereitete sie in Gedanken ihre Gebete vor?

»Was glaubt Ihr«, begann Ingrey leise, »wird mit Euch geschehen, wenn Ihr Ostheim erst erreicht habt? Was habt Ihr vor?«

Ihr Blick wanderte zu ihm, auch wenn sie den Kopf nicht bewegte. Mit demselben Unterton wie er erwiderte sie: »Ich glaube, ich werde befragt … von den Justizräten des Königs oder den Ermittlern der Kirche oder von beiden. Man sollte gewiss erwarten, dass die Ermittler der Kirche an dem Fall Interesse zeigen werden, wenn man bedenkt, was vor kurzem geschehen ist, und was Hallanas Brief noch aussagen wird. Ich werde ihnen die Wahrheit sagen, denn sie ist meine beste Verteidigung.« Ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Außerdem ist sie leichter im Gedächtnis zu behalten.«

Ingrey seufzte tief. »Wie stellt Ihr Euch Ostheim vor?«

»Ich bin nie dort gewesen. Aber ich nehme an, es ist ein großartiger Ort. Der Hof des Königs dürfte der glanzvolle Mittelpunkt der Stadt sein, obgleich Prinzessin Fara mir auch von den Hafenanlagen, den Glashütten und den Tempelschulen erzählt hat, und es soll ja auch eine königliche Akademie geben. Gärten und Paläste. Hervorragende Schneider. Skriptorien und Goldschmiede und alle Arten von Kunsthandwerk. Es werden dort Schauspiele aufgeführt, und nicht nur zu den Feiertagen, sondern auch vor den hohen Herrschaften in ihren Häusern.«

Ingrey lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung: »Habt Ihr jemals gesehen, wie ein Schwarm von Geiern um den Kadaver eines großen, gefährlichen Tieres kreist, um einen Stier oder einen Bären, der noch nicht ganz verendet ist? Die meisten halten sich zurück und warten, aber einige wagen sich schon vor, um am Fleisch zu picken und zu reißen und sich dann wieder in Sicherheit zu bringen. Und sie alle rücken näher, während der Tag verstreicht und der Anblick der kreisenden Geier noch entferntere Verwandtschaft anlockt, alle rasend vor Sorge, die besten Stücke zu versäumen, wenn am Ende alle zum letzten Ausweiden herabstoßen.«

Vor Abscheu kniff sie die Lippen zusammen. Endlich blickte sie ihn an, und in ihrem Gesicht stand eine Frage zu lesen: Und weiter?

»In diesen Tagen«, Ingrey dämpfte seine Stimme, »gleicht Ostheim eher diesem Bild. Verratet mir doch, Lady Ijada: Was glaubt Ihr, wer zum nächsten Geheiligten König erwählt wird?«

Sie blinzelte. »Ich vermute, der Fürstmarschall Biast.« Bolesos älterer und geistig gesünderer Bruder, der sich zurzeit unter der Anleitung der militärischen Berater seines Vaters an der Nordwestgrenze seinen Rang verdiente.

»Das haben viele andere auch vermutet, bis der Geheiligte König von dieser zehrenden Krankheit befallen und dann vom Schlagfluss niedergestreckt wurde. Hetwar ist überzeugt davon: Hätte der Schlag den König erst fünf Jahre später getroffen, hätte er Biasts Wahl noch zu Lebzeiten sichern können. Oder wenn der alte Mann rasch gestorben wäre … dann hätte Biast, getragen von der Trauer, durchmarschieren können, ehe seine Gegenspieler sich gesammelt hätten.

Nur wenige hätten mit diesem gegenwärtigen, schleichenden Tod gerechnet oder haben sich darauf vorbereitet. Er hält den König nun schon seit Monaten umschlungen und verschafft den Schlimmsten wie den Besten die Zeit und einen Anlass, etwas zu unternehmen, Pläne zu schmieden, sich verstohlen untereinander zu beraten. In Versuchung zu geraten.« Die Sippe derer von Hirschendorn hielt die Königswürde nun schon seit fünf Generationen. Viele der anderen Sippen waren der Ansicht, nun wären allmählich sie an der Reihe, den Thron zu beanspruchen.