»Wer wird es dann werden?«
»Wenn der Geheiligte König heute Abend sterben würde, könnte nicht einmal Hetwar sagen, wer nächste Woche gewählt wird. Und wenn Hetwar es nicht weiß, dann weiß es vermutlich niemand. Aber die Muster der Bestechungen und die Gerüchte ließen Hetwar annehmen, dass Boleso als Überraschungskandidat auftreten sollte.«
Empört blickte sie auf. »Ein schlechter Kandidat!«
»Ein dummer und leicht zu beeinflussender Kandidat. Ideal aus der Sicht gewisser Leute. Ich war immer schon der Ansicht, dass diese Leute sich nicht ganz darüber im Klaren sind, wie gefährlich sein sprunghafter Geist Boleso inzwischen gemacht hatte. Vermutlich hätten sie noch Zeit gefunden, ihren Erfolg zu bedauern. Und das war, noch bevor ich von des Prinzen Umtrieben im Übernatürlichen wusste.« Ingrey blickte düster drein. Hatte Hetwar von Bolesos blasphemischem Treiben gewusst? »Der Siegelbewahrer war besorgt genug, mich mit einer Spende von hunderttausend Kronen zum Erzprälaten und geistlichen Kurfürsten von Wassergipfel zu schicken, um dessen Stimme für Biast zu sichern. Seine Eminenz verstand es, mir in ebenso höflichen wie nichtssagenden Worten zu danken. So empfand ich es zumindest.«
»Der Siegelbewahrer hat einen Erzprälaten bestochen?«
Ingrey zuckte beim Tonfall ihrer Stimme zusammen, der so voller naiver Bestürzung war. »Das einzig Ungewöhnliche an dieser Zahlung war meine Gegenwart. Normalerweise greift Hetwar auf meine Dienste zurück, wenn er Drohungen überbringen möchte. Darauf verstehe ich mich gut. Besonders viel Freude macht es mir, wenn man versucht, dann mir selbst zu drohen oder mich zu bestechen. Es ist ein Vergnügen, sie erst in einen Hinterhalt zu führen und dann zur Erleuchtung zu bringen. Ich nehme an, im Fall des Erzprälaten sollte ich eine doppelte Botschaft überbringen … jedenfalls wirkte er nervös genug dafür. Eine Tatsache, die Hetwar zur Kenntnis genommen hat.«
»Vertraut Euch der Siegelmeister?«
»Manchmal ja, manchmal nein.« Jetzt, zum Beispiel? »Er weiß, wie neugierig ich bin, und so füttert er mich manchmal mit kleinen Bissen. Aber ich dränge ihn nicht dazu. Dann würde ich gar nichts bekommen.«
Ingrey atmete tief durch. »Da Ihr meine Andeutungen nicht beherzigt habt, werde ich es Euch deutlicher erklären. Ihr habt nicht nur Eure Tugend verteidigt, dort oben über den Zinnen von Burg Keilerkopf. Und Ihr habt auch nicht nur die königliche Familie beleidigt, indem Ihr aus dem Ableben ihres Sprösslings einen öffentlichen Skandal gemacht habt. Ihr habt außerdem eine politische Intrige hintertrieben, für die irgendjemand bereits Hunderttausende Kronen und Monate verstohlener Vorbereitungen aufgewendet hat. Und für die außerdem unerlaubte Magie der gefährlichsten Art zur Anwendung kam.
Aus dem mir auferlegten Bann schließe ich, dass es irgendwo in Ostheim einen mächtigen Mann geben muss oder auch mehrere Männer, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Ihr die Wahrheit über Boleso verbreiten könnt. Der erste Versuch, Euch unauffällig aus dem Weg zu räumen, ist gescheitert. Ich nehme an, der nächste Versuch wird ein wenig auffälliger ausfallen.
Hattet Ihr Euch etwa einen heroischen Auftritt vor einem Justizrat oder Ermittler ausgemalt, der ebenso tapfer und aufrichtig für die Gerechtigkeit eintritt wie Ihr selbst? Es mag solche Männer geben, ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch versprechen, dass Ihr nur der anderen Sorte begegnen werdet.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie entschlossen das Kinn vorgeschoben hatte.
»Ich bin verärgert«, sagte er schließlich. »Ich weigere mich, dabei mitzumachen. Ich kann Eure Flucht in die Wege leiten. Und diesmal trockenen Fußes, mit Geld und ohne hungrige Bären. Heute Nacht noch, wenn Ihr es wünscht.« Damit war der bisher nur gedachte Verrat offen ausgesprochen. Während das Schweigen drückender wurde, blickte er auf den Boden zwischen seinen Knien.
Ihre Stimme war so leise, dass sie zitterte. »Wie bequem für Euch. Auf diese Weise müsstet Ihr Euch niemandem widersetzen oder um der Ehre willen jemandem unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen. Ihr könnt in allem so weitermachen wie bisher.«
Sein Kopf fuhr herum. Er war kreidebleich.
»Wohl kaum«, erwiderte er. »Auch ich trage jetzt eine Zielscheibe auf dem Rücken.« Er verzog die Lippen zu einem Grinsen.
»Und das erheitert Euch?«
»Es erregt zumindest mein Interesse.«
Ijada pochte mit den Fingernägeln auf die Fliesen. Es hörte sich an wie das ferne Klacken von Klauen. »So viel zur hohen Politik. Und was ist mit der fortgeschrittenen Theologie?«
»Der was?«
»Ich fühlte einen Gott an mir vorüberziehen, Ingrey! Warum?«
Er machte den Mund auf. Zögerte.
In demselben zornigen Flüstern fuhr sie fort: »Mein Leben lang habe ich gebetet, doch nie eine Antwort erhalten. Ich habe kaum noch an die Götter geglaubt — und wenn, dann nur, um Sie für Ihre Gleichgültigkeit zu verfluchen. Sie haben meinen Vater verraten, der Ihnen sein ganzes Leben lang treu gedient hat. Und meine Mutter haben Sie ebenfalls verraten. Oder Sie waren zu machtlos, um ihr Leben zu retten, was ebenso schlimm ist oder gar noch schlimmer. Wenn ein Gott zu mir gekommen ist, dann ist er ganz gewiss nicht wegen mir gekommen! An welche Stelle setzt Ihr das bei Euren Berechnungen?«
»Die hohe Politik bei Hofe«, antworte Ingrey bedächtig, »ist so gottlos, wie ich es mir nur vorstellen kann. Wenn Ihr weiterhin nach Ostheim reiten wollt, dann reitet Ihr in den Tod. Der Märtyrertod mag eine Ehre sein, Selbstmord aber ist eine Sünde.«
»Und wohin reitet Ihr, Lord Ingrey?«
»Ich habe Lord Hetwar als Schutzherrn.« Glaube ich. »Euch wird niemand beistehen.«
»Nicht jeder Geistliche im Tempel von Ostheim kann bestechlich sein. Und ich habe noch die Sippe meiner Mutter!«
»Der Graf von Dachswall war bei der Versammlung zugegen, die mich ausgeschickt hat. Seid Ihr Euch so sicher, dass er dort war, um Eure Interessen wahrzunehmen? Ich nicht.«
Sie raffte ihre Kleider um sich. »Ich werde nun um göttlichen Rat beten«, verkündete sie. »Ihr mögt still sein.« In einer Geste tiefster Demut warf sie sich flehentlich flach auf den Boden, die Arme ausgestreckt und das Gesicht von ihm abgewendet.
Ingrey legte sich auf den Rücken, blickte zur Kuppeldecke empor und fühlte sich verärgert, benommen und ein wenig übel. Er fürchtete, dass die Wirkung von Hergis Trank allmählich nachließ. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und schweiften dann ab, doch eine fromme Andacht wollte sich nicht einstellen. Müde schloss er die Augen.
Nach einer unbestimmten Zeitspanne hörte er Ijada bissig fragen: »Betet Ihr oder schlaft Ihr? Und was es auch sein mag — seid Ihr damit fertig?«
Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah sie über sich stehen. Offensichtlich hatte er geschlafen, denn er hatte nicht gehört, wie sie aufgestanden war. »Zu Eurer Verfügung, verehrte Dame.« Er versuchte, sich zu erheben, unterdrückte einen Aufschrei und ließ sich vorsichtig zurücksinken.
»Nun, das überrascht mich nicht. Habt Ihr Euch hinterher mal angesehen, was Ihr mit diesen bedauernswerten Ketten gemacht habt?« Verärgert hielt sie ihm die Hand hin; Neugierig auf ihre Stärke umfasste er mit beiden Händen ihr Handgelenk. Ijada lehnte sich zurück, wie ein Seemann, der an einem Tau zerrt, und er kam schließlich auf die Füße.
Als sie unter dem Säulendach hervor in die Herbstsonne traten, fragte Ingrey: »Und was für einen Rat habt Ihr als Antwort auf all Eure Gebete erhalten, verehrte Dame?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Keinen. Dafür sind meine Gedanken nicht mehr so wirr. So war die stille Andacht nicht völlig vergebens.« Sie warf ihm einen undeutbaren Seitenblick zu. »Es ist nur … Es will mir einfach nicht in den Kopf …«