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Ingrey schlenderte durch das Gemach, betrachtete alles und blickte dann zu den Dachbalken empor. Ulkra, mit der einen Hand die andere umklammernd, wich ihm aus. Genau über dem Bett baumelte eine zerfranste rote Schnur. Ingrey stieg auf den Bettrahmen, zog das Gürtelmesser und reckte sich hinauf, um die Schnur abzuschneiden und in sein Wams zu stecken.

Er sprang hinunter und wandte sich dem besorgt abwartenden Ulkra zu. »Boleso soll in Ostheim beerdigt werden. Kümmert Euch darum, dass seine Wunden und der Leib gründlich gewaschen werden, und legt ihn für den Transport in Salz. Treibt einen Karren auf und ein Gespann — bei diesen schlammigen Straßen besser zwei Paar Pferde — mit einem fähigen Kutscher. Die Wache des Prinzen soll ihn begleiten. Ihre Unfähigkeit kann ihm nicht weiter schaden. Säubert das Gemach, bringt die Burg in Ordnung und ernennt einen Verwalter. Dann kommt mit den anderen Angehörigen des Haushalts und den Wertgegenständen nach.« Ingreys Blick schweifte durchs Zimmer. Hier gab es nichts weiter … »Verbrennt den Leopard. Zerstreut seine Asche.«

Ulkra schluckte heftig und nickte. »Wann wollt Ihr uns verlassen, Herr? Bleibt Ihr über Nacht?«

Sollten die Gefangene und er mit dem langsamen Leichenzug reisen oder sich lieber beeilen? Er wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen; die Anspannung hier ließ seine Nackenmuskeln schmerzen. Doch der Herbst nahte, und das Tageslicht nahm stetig ab. Der Tag war bereits zur Hälfte verstrichen. »Ich muss zuerst mit der Gefangenen sprechen, ehe ich das entscheiden kann. Bringt mich zu ihr.«

Es war nur ein Katzensprung den Flur entlang zu einem fensterlosen, aber trockenen Lagerraum. Kein Verlies, gewiss, aber auch kein Gästezimmer. Die Auswahl dieses Gefängnisses zeugte von einer tiefen Unsicherheit über den Status seiner Bewohnerin. Ulkra klopfte an die Tür und rief: »Werte Dame? Ihr habt einen Besucher.« Dann schloss er die Tür auf und öffnete sie. Ingrey trat ein.

Aus der Dunkelheit glühte ihm ein Augenpaar entgegen, wie das einer Raubkatze, versteckt im Dickicht eines raunenden Waldes. Ingrey schreckte zurück, und seine Hand fuhr zum Schwertgriff. Die Klinge klirrte und war bereits zur Hälfte blankgezogen, als Ingreys Musikantenknochen gegen den Türpfosten schlug und brennender Schmerz von der Schulter bis in die Fingerspitzen schoss. Er trat zurück, um ausholen und zuschlagen zu können.

Bestürzt umklammerte Ulkra seinen Unterarm. Der Haushofmeister blickte ihn befremdet an.

Ingrey stockte und riss sich ruckartig los, damit Ulkra sein Zittern nicht bemerkte. Mit aller Macht hielt er das wilde Verlangen nieder, das durch seine Glieder tobte, und verfluchte von neuem sein Vermächtnis. Er war schon lange nicht mehr davon überrascht worden, schon seit … seit langer Zeit. Ich stelle mich dir entgegen, innerer Wolf. Du wirst nicht die Oberhand gewinnen. Er schob die Klinge zurück in die Schwertscheide, drückte sie fest, löste langsam die Finger vom Heft und presste die Handfläche glatt gegen den lederumhüllten Oberschenkel.

Er starrte abermals in die kleine Kammer und mahnte sich zur Vernunft. Aus den Schatten erhob sich die Silhouette einer jungen Frau von einem strohgefüllten Lager am Boden. Bettzeug war ausreichend vorhanden, eine daunengefüllte Steppdecke, dazu eine Schale mit einem Wasserkrug sowie ein abgedeckter Nachttopf. Für ihre Bedürfnisse war ausreichend gesorgt. Diese Zelle diente vorerst der sicheren Verwahrung, noch nicht der Bestrafung.

Ingrey befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Ich kann Euch in diesem finsteren Winkel nicht erkennen.« Und was ich gesehen habe, kann ich nicht akzeptieren. »Kommt näher zum Licht.«

Sie hob das Kinn, schüttelte die dunkle Haarmähne zurück und bewegte sich vorwärts. Sie trug ein elegantes Leinenkleid, blassgelb gefärbt und am geschwungenen Ausschnitt mit Blumen bestickt — wenn es auch kein Hofkleid war, dann sicherlich das Gewand einer Jungfer von Stand. Eine Reihe dunkelbrauner Spritzer lief schräg darüber. Als sie ins Licht trat, schimmerte ihr zunächst schwarzes, zerzaustes Haar rötlich. Leuchtend braune Augen schauten auf Ingrey, sahen aber nicht zu ihm auf. Ingrey war ein kräftiger, mittelgroßer Mann; das Mädchen war hoch gewachsen und ebenso groß wie er.

Haselnussbraune Augen, die bei dieser Beleuchtung fast bernsteinfarben aussahen, mit einem schwarzen Ring um die Iris. Sie glommen nicht grün. Nicht …

Mit einem argwöhnischen Seitenblick auf Ingrey stellte Ulkra sie einander vor, so förmlich wie als Haushofmeister des Prinzen bei einer festlichen Gesellschaft. »Lady Ijada, dies ist Lord Ingrey von Wolfengrund aus dem Gefolge von Lord Hetwar, dem königlichen Siegelbewahrer. Er wird Euch in Gewahrsam nehmen. Lord Ingrey — Lady Ijada dy Castos, von Seiten ihrer Mutter her mit der Familie von Dachswall verwandt.«

Ingrey stutzte. Bei den fünf Göttern. Eine Lady Ijada, irgendeine unbedeutende Erbin der Dachswall-Sippe — das war alles gewesen, was Hetwar über sie hatte verlauten lassen. »Das ist doch ein Familienname aus Ibra.«

»Aus Chalion«, verbesserte sie ihn kühl. »Mein Vater war Kapitelherr beim Orden des Sohnes und Kommandant einer Ordensburg in den westlichen Feuchtmarschen des Weald, als ich noch ein Kind war. Er heiratete eine Wealdländerin aus der Familie von Dachswall.«

»Und sie sind … verstorben?«, riet Ingrey.

Ijada legte den Kopf schief und entgegnete mit eisiger Ironie: »Sonst wäre wohl besser für meinen Schutz gesorgt gewesen.«

Sie war weder durcheinander noch weinte sie, zumindest hatte sie in jüngster Zeit keine Träne vergossen. Auch wirkte sie keinesfalls verwirrt. Vier Tage in der kleinen Kammer hatten ihr anscheinend geholfen, die Gedanken zu ordnen und sich zu sammeln. Doch ihre Stimme klang angespannt, und ein schwacher Unterton verriet Angst oder Zorn. Ingrey blickte sich suchend in dem kahlen Raum um und schaute dann zu Ulkra. »Führt uns zu einem Ort, wo wir sitzen und reden können. Ein wenig abseits und erleuchtet.«

»Hm … hm …« Nach einer kurzen Denkpause winkte Ulkra sie mit sich. Er wandte dem Mädchen ohne Zögern den Rücken zu, fiel Ingrey auf. Sie war also keine Gefangene, die sich wehrte, biss oder kratzte. Sie folgte Ingrey ruhigen Schrittes.

Am Ende des nächsten Korridors wies Ulkra auf einen Erker mit Blick auf die Rückseite der Burg. »Wie wäre es hiermit, Herr?«

»Das ist gut.« Ingrey stockte, als Lady Ijada anmutig die Röcke lupfte und sich auf der blank polierten Holzbank unter dem Fenster niederließ. Sollte er Ulkra als Zeugen dabehalten oder ihn entlassen, um einer freimütigen Aussage willen? Musste er damit rechnen, dass das Mädchen erneut gewalttätig wurde? Das ungebetene Bild von Ulkra, wie er sich in dem Gang über ihnen in der Finsternis zusammenkauerte und darauf wartete, dass die Schreie verstummten, plagte Ingrey. »Ihr könnt Euch wieder Euren Pflichten zuwenden, Haushofmeister. Ich erwarte Euch in einer halben Stunde zurück.«

Ulkra verharrte unschlüssig und blickte mit finsterer Miene auf das Mädchen. Dann aber verbeugte er sich und verschwand. Bolesos Gefolgsleute waren es nicht gewohnt, die Anweisungen eines Vorgesetzten zu hinterfragen, befand Ingrey. Oder vielleicht war der Prinz einfach jeden, der so etwas wagte, auf die eine oder andere Weise losgeworden, und dies waren nur die Übriggebliebenen. Bodensatz. Abschaum.

Ein bisschen unsicher, weil die Länge der Bank nur wenig Platz zwischen ihnen ließ, setzte Ingrey sich neben Lady Ijada. Auf den ersten Blick hatte er sie für hübsch gehalten, doch jetzt erkannte er, dass dieses Urteil voreilig gewesen war: Das Mädchen war eine strahlende Schönheit! Wenn Boleso nicht ebenso blind wie verrückt geworden war, musste sie ihm auf Anhieb aufgefallen sein. Eine großzügige Stirn, eine gerade Nase, ein schön geformtes Kinn … Ein bläulicher, runder Fleck prangte über einer ihrer Wangen, und ein Muster aus violetten Druckstellen umkränzte ihren schlanken Hals.