»Ja?«
Sie platzte heraus: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Hallana Oswin geheiratet hat!«
Sie fanden Ijadas Zofe in der Schankstube des Gasthofes vor. Sie saß dort mit Ritter Gesca in einer Ecke. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt. Krüge und eine Platte mit Brotkrümeln, Käserinden und Apfelresten standen zwischen ihnen auf dem Tisch. Der Spaziergang über die sonnengewärmten Straßen hatte Ingreys steife Muskeln ein wenig gelockert.
»Gesca.« Ingrey nickte in Richtung Speiseplatte und erinnerte sich daran, dass er selbst heute noch nichts gegessen hatte. »Wie ist das Essen hier?«
»Der Käse ist hervorragend. Aber haltet Euch von dem Bier fern — es ist sauer geworden!«
Ijada riss die Augen auf, verkniff sich aber jede Bemerkung.
»Ah. Danke für die Warnung.« Er beugte sich vor und schnappte sich die letzte Brotkruste. »Und was habt ihr beide so beredet?«
Die Zofe wirkte erschrocken, doch Gesca erwiderte nur: »Ich habe Ingrey-Geschichten erzählt.« Sein Tonfall war ein wenig herausfordernd.
»Ingrey-Geschichten?«, wiederholte Ijada. »Gibt es viele davon?«
Ingrey verzog das Gesicht.
Gesca fühlte sich von der Nachfrage ermutigt und grinste. »Ich habe gerade die Geschichte erzählt, wie Hetwars Tross von den Räubern überfallen wurde, auf der Rückreise von Darthaca im Wald von Aldenna, und wie Ihr Euch dabei Euren Platz in Hetwars Gefolge verdient habt. Es war übrigens mein gutes Wort beim Siegelmeister, das dafür sorgte.«
»Ach ja?« Ingrey versuchte, sich darüber klar zu werden, ob Gesca nervös herumplapperte oder nicht. Und wenn ja, warum?
»Wir waren ein großer Trupp«, fuhr Gesca an die Frauen gewandt fort, »und gut bewaffnet, aber unsere Gegner waren eine Schar von Gesetzlosen, die in die Wälder geflohen und deren Anzahl auf mehr als zweihundert Mann angewachsen war, zumeist entlassene Soldaten, Herumtreiber und Deserteure. Sie waren eine Plage für das ganze Umland. Vermutlich sahen wir reich genug aus, dass sie den Überfall wagten. Ich war unmittelbar hinter Ingrey, als sie über uns herfielen. Sie haben rasch ihren Fehler erkannt. Verblüffende Fechtkunst.«
»Ich bin nicht so gut«, wandte Ingrey ein. »Sie waren so schlecht.«
»Ich habe nicht ›gut‹ gesagt, ich sagte ›verblüffend‹. Ich habe schon Meisterfechter gesehen, und das seid Ihr so wenig wie ich. Aber als deutlich wurde, dass niemand Euch bezwingen könnte, solange Ihr nur Platz genug habt, eine Klinge zu schwingen, kam dieser bärenhafte Bursche heran und wollte Euch in ein Handgemenge verwickeln. Ich war zu diesem Zeitpunkt etwa fünfzehn Schritte entfernt und hatte selbst alle Hände voll zu tun, aber trotzdem … Ihr habt Euer Schwert in die Luft geworfen, den Kerl am Kopf gepackt und ihm den Hals gebrochen. Dann habt Ihr das Schwert wieder aufgefangen, Euch umgewandt und den Räuber enthauptet, der von hinten an Euch herankam. Und das alles in einer einzigen, fließenden Bewegung!«
Ingrey erinnerte sich nicht mehr an diesen Augenblick, obwohl er den Angriff als solchen natürlich noch sehr gut im Gedächtnis hatte. Zumindest den Anfang und das Ende des Kampfes. »Gesca, du erfindest Geschichten, um aufzuschneiden!« Gesca war beinahe zehn Jahre älter als Ingrey. Vielleicht war das Geschäker mit einer farblosen Zofe mittleren Alters für ihn nicht so abwegig, wie es Ingrey vorkam.
»Ha! Würde ich mir Lügengeschichten zum Angeben ausdenken, würde sie von meinen eigenen Taten erzählen! Jedenfalls, das war der Zeitpunkt, wo der Rest der Bande die Flucht ergriff. Den Langsamsten habt Ihr noch niedergehauen …« Gesca verstummte, und Ingrey wusste warum: Er war wieder zur Besinnung gekommen, als er gerade damit beschäftigt gewesen war, der Reihe nach alle Verwundeten zu erschlagen. Rot bis zu den Ellbogen, von einem erstickenden Geruch nach Blut umhüllt. Gesca, wie er ihn mit entsetztem Gesicht an den Schultern gepackt und gerufen hatte: Ingrey! Um des Vaters willen, lass ein paar zum Aufhängen übrig!
Gesca überspielte sein Zögern, indem er einen weiteren Schluck Bier nahm und sich offenbar zu spät daran erinnerte, dass es verdorben war. Er schluckte es trotzdem herunter, verzog das Gesicht und wischte sich den Mund ab. »Und das war der Zeitpunkt, wo ich Hetwar empfohlen habe, Euch dauerhaft in seine Wache aufzunehmen. Das war natürlich purer Eigennutz von mir. Ich wollte sicherstellen, dass Ihr mir in einem Kampf niemals gegenübersteht.« Gesca lächelte zu ihm auf, doch seine Augen lächelten nicht mit.
Ingreys Lächeln war ebenso ernst. Feinsinnige Andeutungen, Gesca? Das passt nicht zu dir. Was versuchst du mir zu sagen?
Allmählich kehrte der Kopfschmerz zurück, der ihn heimsuchte, seit er vorgestern gegen den Felsen gestoßen war. Ingrey beschloss, sich zurück zu seinem eigenen Gasthaus zu begeben und sich Essen zu besorgen. Er empfahl Ijada wieder der Obhut ihrer Zofe und wies die Frauen an, weiterhin ihre Gemach verschlossen zu halten. Dann zog er sich zurück.
Kapitel Sieben
Nachdem er sich im Gemeinschaftsraum seines Gasthauses eine Mahlzeit gesichert hatte, kehrte Ingrey auf sein Gemach zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Er war nun schon anderthalb Tage zu spät dran, wenn er dem Rat der heilkundigen Schwester von Riedenswooge folgen und seinem Kopf nach dem schmerzhaften Schlag Ruhe gönnen wollte. Stumm und demütig leistete er ihr Abbitte. Aber trotz all seiner Erschöpfung konnte er an diesem sonnigen Nachmittag nicht einschlafen.
Es brachte wenig, geheime Vorbereitungen für Ijadas nächtliche Flucht zu treffen, wenn sie sich weigerte, aufzusteigen und loszureiten. Er musste einen Weg finden, sie zu überreden. Wenn ihr verborgenes Tier entdeckt wurde, würde man sie dann verbrennen? Er sah vor sich, wie die Flammen an ihrem Leib emporzüngelten, bösartige, orange lodernde Zärtlichkeiten, die den ölgetränkten Kittel in Brand setzten, den man solchen Gefangenen anzog.
Und er stellte sich vor, wie sie an einem Hanfseil von einem Eichenbalken hing, in furchtbarer, sinnloser Parodie eines Menschenopfers aus dem Alten Weald, das an einem heiligen Baum hing. Oder würden die königlichen Scharfrichter ihr eine Seidenschnur zubilligen, wie ihrem Leoparden, in Anerkennung ihres Standes? Bei den alten Stämmen hatte man mangels Seide für hochgeborene Delinquenten Seile aus einem schimmernden Garn genommen, das aus den Bastfasern von Brennnesseln geflochten wurde. So hatte er jedenfalls gehört. Denk an etwas anderes. Doch seine Gedanken drehten sich in düsterer Morbidität im Kreis.
Anfänglich waren die Menschenopfer des Alten Weald freiwillige Boten für die Götter gewesen. Geheiligte Kuriere, die Gebete in Stunden größter Not direkt in den Himmel tragen sollten, wenn bloße Worte in einen Abgrund gesprochen schienen und ungehört verhallten. Wie jetzt die meinen. Doch während generationenlanger Konflikte an der Ostgrenze war die Not der Stämme gewachsen — und auch ihre Ängste. Schlachten und Landstriche gingen verloren; die Sorgen wuchsen und die Urteilskraft schwand. Quantität ersetzte Qualität in jenen verzweifelten Tagen, und heldenhafte Freiwillige für diese heilige Aufgabe waren immer schwerer zu finden.
Sie schlossen diese Lücken durch die weniger Willigen, dann durch die gänzlich Unwilligen; und schließlich mit gefangenen Soldaten, Geiseln, entführten Trossknechten und Schlimmerem. Die heiligen Bäume trugen eine reiche Frucht. In einigen der schaurigen Lieblings-Märtyrergeschichten, wie die quintarischen Geistlichen sie erzählten, hatte Ingrey sogar gehört, dass man Kinder geopfert hatte. Feindliche Kinder. Und was für ein gottloser Geist kam wohl auf den Gedanken, ahnungslose Kinder als Feinde zu bezeichnen? Ganz am Ende hatten die Stammeszauberer des Alten Weald vielleicht sogar darüber nachgedacht, was für Gebete dieser endlose Strom an Menschenopfern eigentlich zu den Göttern getragen hatte, über die kummervollen Herzen ihrer Opfer.