Denk an etwas Sinnvolles, verflucht! Ijadas bissige Worte im Tempel schienen ihm wie Stechmücken unter die Haut zu dringen. Ihr müsstet Euch niemandem widersetzen und auch keine unangenehmen Wahrheiten aussprechen … Bei den fünf Göttern, was glaubte dieses närrische Mädchen, was er in Ostheim für einen Einfluss besaß? Er war selbst nur widerwillig geduldet, unter Hetwars schützender Hand. Ingrey verlieh dieser Hand eine spürbare Stärke, das war richtig. Aber das tat auch der Rest von Hetwars Garde. Womöglich verlieh er ihr auch einen etwas einzigartigeren und unterschwellig sehr wirksamen Hauch von übernatürlicher Bedrohung, aber in dem Netz der Macht, das der Siegelbewahrer gesponnen hatte, war Ingrey gewiss nur ein unbedeutender Faden. Er hatte niemals jemandem eine Gefälligkeit erwiesen und konnte deshalb jetzt auch keine Gefälligkeiten einfordern. Wenn er überhaupt die Möglichkeit hatte, Ijada zu retten, wäre sie spätestens dann verstrichen, wenn der Leichenzug die Stadttore erreichte.
Mit Unbehagen stellte er fest, dass seine Gedanken immer düsterer wurden, ohne dabei neue Lösungen aufzuzeigen. Irgendwann schlummerte er ein. Er schlief nicht gut, aber es war besser als das Herumwälzen vorher.
Er erwachte, als die Herbstsonne unterging, und begab sich sogleich wieder in Ijadas Gasthaus, um sie zum Abendgebet einzuladen.
»Ihr seid aber plötzlich fromm geworden«, flüsterte sie ihm zu und bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. Aber auf seinen verbissenen Gesichtsausdruck hin gab sie nach und begleitete ihn erneut zum Tempel.
Als sie auf den Knien vor dem Altar des Bruders knieten — sowohl die Halle der Mutter wie auch die der Tochter waren voll mit Betenden aus Rottwall —, fing er halblaut an zu sprechen: »Hört mir zu. Heute Abend muss ich entscheiden, ob wir morgen reiten oder verweilen. Ihr könnt Euch nicht einfach planlos in Euer Unglück treiben lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Art Rettungsleine zum Ufer zu werfen. Ansonsten wird es die Leine werden, an der man Euch aufhängt, und es macht mich halb wahnsinnig, mir vorzustellen, dass Ihr an einer Schlinge baumelt wie Euer Leopard. Ich würde meinen, ihr hättet beide genug davon.«
»Ingrey, denkt doch nach«, erwiderte sie ebenso leise. »Selbst angenommen, ich könnte unbemerkt entkommen, wohin sollte ich mich wenden? Die Familie meiner Mutter kann mich nicht aufnehmen oder verstecken. Mein bedauernswerter Stiefvater … er ist nicht stark genug, um gegen so mächtige Gegner anzukämpfen, und außerdem wäre sein Haus das erste, wo man nach mir sucht. Eine Frau, eine Fremde, allein — ich wäre höchst auffällig und ein Opfer für alle, die Böses wollen.« Anscheinend hatte sie doch darüber nachgedacht.
Er holte tief Luft. »Was, wenn ich mit Euch komme?«
Es folgte eine lange Stille. Er schaute zur Seite und stellte fest, dass ihre Gesichtszüge wie versteinert waren und sie mit weit aufgerissenen Augen gerade nach vorne starrte. »Das würdet Ihr tun? Eure Truppe im Stich lassen und Eure Eide?«
Er biss die Zähne zusammen. »Vielleicht.«
»Wo sollen wir dann hingehen? Eure Verwandten können uns ebenfalls nicht aufnehmen, nehme ich an.«
»Ich würde unter gar keinen Umständen nach Birkenhain zurückkehren. Nein. Wir müssten den Weald vollständig verlassen, die Grenzen überqueren. Vielleicht zum Alvischen Bund — wir könnten über die nördlichen Berge in die Kantone fliehen. Oder nach Darthaca. Ich kann wenigstens Darthacan sprechen und schreiben.«
»Ich nicht. Ich wäre Eure stumme … was? Last, Dienerin, Gespielin, Liebchen?«
Ingrey errötete. »Wir könnten so tun, als wäret Ihr meine Schwester. Ich könnte schwören, Euch mit der entsprechenden Zurückhaltung zu begegnen. Ich würde Euch niemals anrühren.«
»Wie überaus verlockend.« Sie presste die Lippen zusammen.
Er hielt inne und fühlte sich wie jemand, der im Winter das Eis eines zugefrorenen Flusses überquert und das erste leise Knacken unter seinen Füßen hört. Was wollte sie mir mit dieser Bemerkung zu verstehen geben? »Ibranisch war die Sprache Eures Vaters, nehme ich an. Versteht Ihr das?«
»Ein wenig. Ihr?«
»Ein wenig. Wir könnten also versuchen, die Halbinsel zu erreichen. Chalion oder Ibra oder Brajar. Dort wäret Ihr nicht ganz so stumm.« Außerdem gab es dort Arbeit für einen Schwertkämpfer, hatte Ingrey gehört, in den endlosen Grenzkriegen mit den irrgläubigen Fürstentümern an der Küste, die nur vier Götter verehrten. Ausländische Freiwillige mussten dort wenige Fragen befürchten, solange sie nur den Fünfen huldigten.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe heute Nachmittag viel nachgedacht, über das, was Hallana gesagt hat.«
»Über was genau? Sie hat die ganze Zeit geredet, über viele Dinge.«
»Dann achtet auf das, was sie nicht gesagt hat.«
Das klang so sehr nach einem von Hetwars bevorzugten Aphorismen, dass Ingrey zusammenzuckte. »Gab es denn da etwas?«
»Sie meinte, dass sie mich aus zwei Gründen aufgesucht hat — und das zu einer Zeit, wo die Reise für sie selbst sehr beschwerlich ist, vielleicht sogar gefährlich, denkt daran! Der erste Grund war, dass sie von den Vorfällen gehört hatte — und der zweite waren die Träume, natürlich. Nur Hallana konnte diesen zweiten Grund so nebensächlich klingen lassen. Meine eigenen Träume, seltsame und düstere Träume, Albträume, die beinahe ebenso verstörend sind wie das, was mir jetzt tagsüber passiert, schreibe ich meiner Furcht zu, der Müdigkeit und … und dem, was Boleso mir hinterlassen hat.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Aber warum sollte Hallana von meinen Schwierigkeiten träumen? Sie ist durch und durch eine Frau der Kirche und keine Abtrünnige, trotz ihrer Eigenwilligkeit. Hat sie Euch von ihren Träumen erzählt?«
»Nein. Aber ich habe sie auch nicht danach gefragt.«
»Sie hat viele Fragen gestellt und hat wer weiß was erfahren, indem sie uns beobachtet hat. Aber sie hat mir keinen Rat gegeben, weder in die eine noch in die andere Richtung. Auch das ist eine auffällige Schweigsamkeit. Alles, was sie mir gegeben hat, ist dieser Brief.« Sie berührte ihre linke Brust und betastete den fein bestickten Stoff ihrer Reitjacke. Ingrey vermeinte, das leise Rascheln von Papier unter der Kleidung zu hören, von irgendeiner Innentasche. »Anscheinend ging sie davon aus, dass ich ihn überbringen würde. Da es einem Rat von ihr noch am nächsten kommt, würde ich es nur ungern missachten, für eine waghalsige Flucht in die Verbannung mit … mit einem Mann, den ich vor vier Tagen zum ersten Mal gesehen habe.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und vor allem nicht als Eure kleine Schwester, mögen die Götter es verhüten!«
Er verstand nicht, warum sie so gekränkt war, doch an ihrer Ablehnung konnte kein Zweifel bestehen. »Dann werden wir morgen unsere Reise nach Ostheim fortsetzen«, stellte er fest, »mitsamt Bolesos Sarg.« Was ihm etwa drei weitere Tage Zeit verschaffte, um überzeugendere Argumente oder einen besseren Plan zu ersinnen, abzüglich der Zeit, die er zum Schlafen brauchte. Wenn er überhaupt zum Schlafen kam.
Er begleitete sie durch das abendliche Zwielicht zurück zum Gasthaus und übergab sie erneut in die Obhut ihrer Zofe. Diese einfache Frau blickte ihn nun mit unverhohlenem Misstrauen an, obwohl sie kein Wort sagte. Während er selbst wieder die Straße entlang ging, fragte sich Ingrey, ob er vielleicht mehr auf das achten sollte, was Ijada nicht aussprach. Davon gab es sicher genug.