Als er zu seinem Gasthaus kam, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten an der Gebäudewand, wo sie gelehnt hatte. Ingreys Hand wanderte zum Schwertgriff, doch er entspannte sich wieder, als die Gestalt in den gelblichen Schein der Laterne über der Tür trat und er Gesca erkannte. Der Truppführer nickte ihm zu.
»Geht ein Stück mit mir, Ingrey. Ich würde gern unter vier Augen mit Euch reden.«
Ingrey runzelte die Stirn, schloss sich aber seinem Stellvertreter an. Im Gleichtakt pochten ihre Stiefel aufs Kopfsteinpflaster, als sie auf den nächsten Platz einbogen, nahe den Stadttoren, und sich schließlich auf einer Holzbank am Brunnen in der Mitte des Platzes niederließen. Dort wandte sich gerade eben ein Dienstbote ab und stapfte an ihnen vorüber. Von einem Tragjoch über seinen Schultern hingen zwei tropfende Eimer herab. In der Straße dahinter eilte ein Paar nach Hause. Die Frau trug eine Laterne, der Mann ein Kind auf den Schultern, das sich mit seinen kleinen Händen in den Haaren des Mannes festklammerte. Der Mann beklagte sich lachend über den Griff. Mit prüfendem Blick musterte er die herumlungernden Krieger, beruhigte sich aber angesichts ihrer entspannten Haltung. Er wandte sich wieder seiner Frau zu. Ihre Schritte verhallten.
Schweigen kehrte ein und lastete unbehaglich lange. Gesca trommelte unruhig mit den Fingern auf den Oberschenkeln. Schließlich machte Ingrey den Anfang: »Gibt es ein Problem in der Truppe? Oder mit Bolesos Leuten?«
»Hm.« Gesca setzte sich auf und streckte die Schultern. »Vielleicht könnt Ihr mir diese Frage besser beantworten.« Er zögerte wieder, biss sich auf die Unterlippe und fragte unvermittelt: »Ihr habt Euch doch nicht etwa in dieses verflixte Mädchen verliebt, Ingrey?«
Ingrey erstarrte. »Wie kommst du denn darauf?«
Gescas Stimme bekam einen ironischen Beiklang: »Nun, mal nachdenken. Was war es wohl, was mich auf diesen Gedanken brachte? Könnte es die Art und Weise sein, wie Ihr jede Gelegenheit nutzt, um unter vier Augen mit ihr zu reden? Oder liegt es vielleicht daran, dass Ihr Euch ohne Zögern in eine reißende Strömung gestürzt habt, um sie zu retten? Oder vielleicht liegt es daran, wie Ihr bei dem Versuch überrascht wurdet, halb bekleidet um Mitternacht in ihre Schlafkammer zu schleichen? Oder ist es der blasse, sehnsuchtsvolle Ausdruck auf Eurem Gesicht, wenn Ihr sie anschaut und glaubt, niemand würde auf Euch achten? Die kummervollen Schatten unter Euren Augen, die täglich tiefer werden? Ich muss zugeben, nur Ingrey von Wolfengrund würde in Begierde entflammen zu einer Frau, die ihre Geliebten zu Tode zu prügeln pflegt. Doch für Euch ist das keine Abschreckung, sondern ein besonderer Reiz!« Gesca schnaubte.
»Ihr habt«, versetzte Ingrey kühl, »einen ganz falschen Eindruck von der Sache gewonnen.« Er empfand tiefste Bestürzung, als er erkannte, wie nahe liegend und glaubwürdig Gescas Schlussfolgerungen auf einen Außenstehenden wirken mussten. Dann aber kam ihm der verstohlene Gedanke, dass es vielleicht gar keine so üble Tarnung sein mochte für die unheimliche, sehr viel gefährlichere Wahrheit des Bannes, unter dem er gestanden hatte. Und dann wiederum kam ihm die noch beängstigendere Vorstellung, dass Gesca vielleicht doch Recht haben könnte … Nein. Auf keinen Fall. »Außerdem war es nur ein einziger Liebhaber.«
»Was?«
»Den sie totgeprügelt hat.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich muss allerdings zugeben: Was dem Inhalt ihrer Jagdtasche an Zahl fehlt, wird durch das Gewicht hinreichend ausgeglichen.« Und, nach einer weiteren kurzen Pause: »Jedenfalls fühlt sie sich nicht zu mir hingezogen. Also sind deine Befürchtungen müßig.«
»Das stimmt nicht. Sie hält Euch für einen sehr ansehnlichen Mann, wenn auch für mürrisch.«
»Woher willst du das denn wissen?« Rasch ließ Ingrey die letzten Tage noch einmal vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Wann hatte Gesca je mit der Gefangenen geredet?
»Ich habe mit ihrer Zofe über Euch gesprochen, oder vielleicht war es auch andersherum. Sie ist ziemlich offen und unverblümt, die Frau, wenn man sie erst einmal ans Reden kriegt. Der Dienst an der Mutter bewirkt das bei manchen Frauen.«
»Mit mir hat sie kaum ein Wort gewechselt.«
»Weil Ihr sie einschüchtert. Ich nicht. Zumindest nicht im Vergleich. Das ist recht hilfreich, jedenfalls für mich. Aber habt Ihr je mit angehört, wie zwei Frauen über Männer reden? Männer sind derbe Aufschneider, wenn sie ihre Eroberungen vergleichen, aber die Frauen … ich würde mich lieber von einem Anatom der Mutter lebendig sezieren lassen, als mir anzuhören, was die Damen über uns erzählen, wenn sie glauben, dass niemand zuhört.« Gesca erschauderte.
Ingrey schaffte es, nicht mit der Frage herauszuplatzen: Was hat Ijada sonst noch über mich erzählt? Ihm kam in den Sinn, dass ihre Gefangene die Stunden, während derer sie mit dieser einfachen Landfrau eingesperrt war, irgendwie füllen musste, und belangloses Geplauder mochte die furchtbarsten Geheimnisse besser verhüllen als Schweigen. Leichthin wagte er zu fragen: »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«
»O ja.« Gesca ließ seine Stimme in ein weibliches Falsett fallen: »Die Dame findet, dass Euer Lächeln umwerfend ist.«
Gescas Lächeln war ein boshaftes Grinsen. Aber ganz offensichtlich waren die Schatten nicht dunkel genug, um das Funkeln in Ingreys Augen zu verbergen, mit dem er Gescas Grinsen erwiderte, oder vielleicht brannte sich dieses Funkeln auch aus eigener Kraft seinen Weg durch die Dunkelheit, denn Gesca hob beschwichtigend die Hand und wirkte plötzlich ernüchtert.
»Schaut, Ingrey.« Gescas Stimme klang eindringlich. »Ich möchte nicht miterleben, wie Ihr etwas Dummes tut. Ihr habt eine Zukunft in Hetwars Haushalt. Da ist weit mehr drin als bei mir, und das nicht nur wegen Eurer Zugehörigkeit zu einer der großen Sippen. Ich für meinen Teil schaffe es eines Tages vielleicht bis zum Wachhauptmann. Ihr hingegen seid ein Schriftkundiger, und das in zwei verschiedenen Sprachen. Hetwar behandelt Euch als gleichrangig, nicht nur der Herkunft nach, sondern auch nach dem Verstand, und Ihr gebt es ihm in gleicher Münze zurück. Wenn ich euch beiden zuhöre, wird mir mitunter ganz wirr im Kopf. Ich will noch nicht einmal auf den Wegen wandeln, die Euch scheinbar vorherbestimmt sind. Mir wird schwindelig in der Höhe, und ich halte meinen Kopf lieber dort, wo er ist. Aber am wichtigsten … am wichtigsten ist mir, dass ich nicht derjenige sein will, der ausgeschickt wird, um Euch festzusetzen.«
Ingrey entspannte sich. »Das ist verständlich.«
»Finde ich auch.«
»Wir reiten morgen weiter.«
»Gut.«
»Wenn ich meine Stiefel über die Füße bekomme.«
»Ich werde Euch dabei helfen.«
Und ich werde diese neugierige, umherspionierende, schwatzhafte Zofe zurück nach Riedenswooge schicken und sie durch eine andere ersetzen. Oder durch gar keine. Weibischer Klatsch war schlimm genug. Aber was, wenn ihr Geschwätz sich auch auf die eigentümlichen Begebenheiten im Gefolge von Hallanas Besuchen erstrecken würde?
Vielleicht hat es das bereits?
Sie erhoben sich beide und traten den Rückweg über die schlecht erleuchtete Straße an. Ingrey hielt an der Tür seines Gasthauses; Gesca ging mit einem beiläufigen Abschiedsgruß weiter. Ingrey blickte ihm hinterher.
So, Gesca beobachtet mich also. Aber weshalb? Neugier? Eigennutz, wie er behauptete? Kameradschaftliche Sorge? Sonderbare Gerüchte? Es kam Ingrey in den Sinn, dass Gesca trotz der bescheidenen Behauptung, nicht schreiben zu können, durchaus fähig war, einen kurzen Bericht aufzusetzen. Die Sätze mochten einfach sein, die Wortwahl unbeholfen, die Rechtschreibung wacklig — er konnte seine Beobachtungen durchaus verständlich übermitteln.
Und wenn Hetwar die Briefe von ihnen beiden vorliegen hatte, was Hetwar sehr ähnlich sähe … dann würde Ingreys Schweigen Bände sprechen.