Ijadas samtige Stimme wurde schneller, und atemlos fuhr sie fort: »Er zog den Leoparden mit der Würgeschlinge empor. Dann schlug er mich und warf mich aufs Bett. Ich wehrte mich. Er murmelte leise vor sich hin, Zaubersprüche oder Worte im Wahn — vielleicht beides, ich weiß es nicht. Doch ich glaubte ihm, dass er so etwas schon einmal getan hatte, denn sein Verstand war eine einzige heulende Menagerie. Der Todeskampf des Leoparden lenkte Boleso ab, und ich konnte mich unter ihm hervorwinden. Ich versuchte zu fliehen, konnte aber nirgendwohin. Die Tür war verschlossen, und den Schlüssel trug er am Leib.«
»Habt Ihr um Hilfe gerufen?«
»Ich glaube schon, aber ich weiß es nicht mehr. Meine Kehle war hinterher rau, also muss ich wohl gerufen haben. Das Fenster bot keine Fluchtmöglichkeit. Der Wald dahinter dehnte sich endlos in der Dunkelheit. Ich rief den Geist meines Vaters und seinen Gott, damit sie mir aus der Finsternis zur Hilfe kamen.«
Ingrey musste daran denken, dass Ijada in einer solchen Not besser ihre rechtmäßige Beschützerin hätte anrufen sollen, die Frühlingstochter, der die Jungfräulichkeit heilig war. Es war ungewöhnlich für eine Frau, Hilfe beim Herbstsohn zu suchen, dem Bruder der göttlichen Tochter. Obwohl jetzt Seine Jahreszeit ist. Der Herr des Herbstes war der Gott der Jünglinge, der Ernte und der Jagd, der Kameradschaft und des Krieges. Und auch der Gott der Kriegswaffen?
»Ihr habt Euch umgedreht«, sagte Ingrey, »und den Griff des Hammers unter Eurer Hand gespürt.«
Die haselbraunen Augen wurden größer. »Woher wisst Ihr das?«
»Ich habe das Gemach gesehen.«
»Oh.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich habe zugeschlagen. Boleso sprang auf mich oder … oder taumelte in meine Richtung, und ich traf ihn erneut. Er stürzte und stand nicht wieder auf. Aber er war noch nicht tot. Sein Körper zuckte noch, als ich in seiner Robe nach dem Schlüssel tastete. Ich wurde deshalb beinahe ohnmächtig, kippte um, fing mich aber irgendwie mit Händen und Knien am Boden ab, und der Raum wurde dunkel. Ich … es … Schließlich gelang es mir, die Tür aufzuschließen, und ich rief Bolesos Männer herein.«
»Wie haben sie reagiert? Waren sie wütend?«
»Eher verängstigt, würde ich sagen. Sie stritten lange miteinander und beschuldigten sich gegenseitig, ebenso wie mich und jeden anderen, der ihnen einfiel. Sogar Boleso. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie beschlossen, mich einzusperren und einen Boten fortzuschicken.«
»Und was habt Ihr gemacht?«
»Ich saß die meiste Zeit auf dem Boden, denn es ging mir nicht gut. Sie haben mir diese dummen Fragen gestellt. Hatte ich ihn getötet? Was dachten sie denn? Glaubten sie, er hätte sich selbst den Hammer auf den Kopf gehauen? Ich war froh, als sie mich endlich in diese Kammer sperrten. Ich glaube, nicht einmal Ulkra ist aufgefallen, dass ich die Tür von der Innenseite aus verriegeln konnte.«
So ruhig er konnte, fragte Ingrey: »Konnte Boleso seine Vergewaltigung vollenden?«
Sie hob den Kopf. Ihre Augen blitzten. »Nein.«
Aus ihrer Stimme sprach die Wahrheit und eine Art von unsicherem Triumph. In der größten Not, von allen verlassen, die sie beschützen sollten, hatte sie herausgefunden, dass sie sich selbst nicht aufgeben musste. Eine nachhaltige Lektion. Eine gefährliche Lektion.
Auf die gleiche, betont unbeteiligte Weise fragte er: »Führte er das Ritual zu Ende?«
Diesmal zögerte sie. »Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher … was er erreichen wollte.« Sie blickte hinunter auf ihren Schoß. Ihre Hände waren krampfhaft umeinander geschlossen. »Was wird jetzt geschehen? Ritter Ulkra sagte, Ihr würdet mich in Gewahrsam nehmen und fortbringen. Wohin?«
»Ostheim.«
»Gut«, stieß sie mit unerwarteter Inbrunst hervor. »Der Tempel dort wird mir gewiss beistehen.«
»Ihr habt keine Angst wegen Eures Prozesses?«
»Prozess? Ich habe mich nur selbst verteidigt. Man hat mich verraten und diesem Schrecken ausgeliefert!«
»Einigen mächtigen Leuten«, stellte er in immer noch ruhigem Tonfall fest, »wird es vielleicht nicht gefallen, wenn Ihr in aller Öffentlichkeit solche Behauptungen aufstellt. Denkt nach. Zunächst einmal habt Ihr keinen Beweis für eine versuchte Vergewaltigung. Ein halbes Dutzend Männer können bezeugen, dass Ihr scheinbar bereitwillig zu Boleso gegangen seid.«
»Es war bereitwillig, in Anbetracht der anderen Möglichkeiten — einer Flucht in die Wälder, beispielsweise, um mich dort von wilden Tieren zerreißen zu lassen oder jeden, der mir helfen wollte, einem gewaltsamen Tod zu überantworten.« Sie starrte ihn an. »Glaubt Ihr mir etwa nicht?«
»O doch!« O doch. »Aber ich bin nicht Euer Richter.«
Sie runzelte die Stirn, und man sah einen schmalen Streifen, wo sie die Zähne gegen die blutleere Unterlippe drückte. Dann straffte sie sich wieder. »Selbst wenn es keine Zeugen für die versuchte Vergewaltigung gibt, so gibt es doch Zeugnis für das widerrechtliche Ritual. Alle haben den Leoparden gesehen. Sie haben die geheimnisvollen Zeichen auf dem Leib des Prinzen erblickt. Das sind keine bloßen Behauptungen, sondern greifbare Dinge.«
Nicht mehr. Wenn sie nicht unschuldig war, so war sie zumindest sehr naiv. Lady Ijada, Ihr habt keine Ahnung, wem Ihr entgegentretet.
Schritte erklangen auf den Dielen, und als Ingrey aufschaute, sah er Ulkra näher kommen. Der Ritter brachte das Kunststück zuwege, bedrohlich und kriecherisch zugleich zu wirken.
»Wie lauten Eure Wünsche?«, fragte er unruhig.
Irgendwo anders zu sein, und irgendetwas anderes zu tun, dachte Ingrey.
Er hatte mehr als zwei Tage im Sattel verbracht und war einfach zu müde, um heute auch nur eine Meile weiterzureiten. Boleso würde es auch nicht eilig haben, zu seiner Beerdigung zu kommen und sich dem göttlichen Ratschluss zu stellen. Außerdem war Ingrey nicht gerade begierig darauf, dieses verfluchte, arglose Mädchen vor das irdische Gericht zu bringen. Sie hatte nicht genug Angst vor den wahren Gefahren. Mochten die fünf Götter ihr beistehen, aber sie schien sich vor gar nichts zu fürchten.
»Gebt Ihr mir Euer Wort, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, wenn ich Eure Haft erleichtere?«
»Natürlich«, erwiderte sie, als wäre sie überrascht, dass er überhaupt gefragt hatte.
Ingrey winkte dem Haushofmeister. »Besorgt ihr ein standesgemäßes Zimmer. Gebt ihr ihre Habseligkeiten zurück. Und treibt eine angemessene Zofe auf, die Lady Ijada aufwarten und ihr beim Packen helfen kann — falls sich an diesem Ort so jemand finden lässt. Morgen, beim ersten Tageslicht, brechen wir zusammen mit Bolesos Leichnam nach Ostheim auf.«
»Ja, Herr«, sagte Ulkra und neigte den Kopf, in stillem Einverständnis und mit einem Hauch von Erleichterung.
Dann kam Ingrey noch ein Gedanke. »Sind irgendwelche Mitglieder des Haushalts nach Bolesos Tod geflohen?«
»Nein, Herr. Warum wollt Ihr das wissen?«
Ingrey wich der Frage mit einer unbestimmten Geste aus, und Ulkra bedrängte ihn nicht weiter.
Leder knarrte, als Ingrey sich erhob, doch er hatte das Gefühl, als würden seine Muskeln noch lauter protestieren als die feuchten Gamaschen. Lady Ijada dankte ihm mit einem Knicks und schritt hinter dem Haushofmeister her. An der Treppe blickte sie über die Schulter zurück und bedachte ihn mit einem ernsten Blick voller Vertrauen.
Es war seine Pflicht, sie nach Ostheim zu bringen. Mehr nicht. Sie direkt in die Hände derer auszuliefern, die … ihrem Fall nicht freundlich gesonnen waren. Abwechselnd spannten seine Finger sich um den Schwertgriff und lösten sich wieder.
Mehr nicht.