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Ingrey betrachtete ihn. Auf einer Seite des Steins war ein Spiralmuster in die verwitterte Oberfläche geritzt.

»Das ist eines der Symbole, die Boleso auf seinen Körper gemalt hat. Mit Färberröte um den Bauchnabel. Habt Ihr es dort gesehen?«

»Nein«, gestand Ingrey. »Seine Leiche war zu diesem Zeitpunkt schon gewaschen worden.«

»Oh«, meinte sie bestürzt. »Nun, es war dort.«

»Ich zweifele nicht an Euren Worten.« Obwohl andere das vielleicht tun werden. War ihr das inzwischen auch bewusst geworden?

Sie blickte sich auf der Lichtung um. »Was denkt Ihr? War dieser Ort früher ein Waldheiligtum?«

»Sehr wahrscheinlich.«Er folgte ihrem Blick und betrachtete die Baumstümpfe und die Größe der Stämme genauer. Welchen heiligen oder unheiligen Zwecken diese Lichtung ursprünglich auch einmal gedient haben mochte, die letzten Rodungen stammten anscheinend von einfachen umherziehenden Holzfällern. »Der Quellbrunnen deutet darauf hin. Dieser Platz wurde gerodet, verlassen und danach mehr als einmal wieder frei geschlagen.« Womöglich dem Auf und Ab des Krieges folgend, in dem Audar der Große und die darthacischen Quintarier vor 400 Jahren das Weald zum ersten Mal erobert und den Waldketzereien der alten Sippen ein Ende bereitet hatten.

»Ich frage mich, wie die alten Zeremonien wirklich gewesen sein mögen«, überlegte sie. »Die Geistlichen wettern gegen die Tieropfer, aber eigentlich … Als Kind, in der Ordensburg meines Vaters, bin ich einige Male mit … mit einer Freundin zu den Herbstfeiern der Sumpfleute gegangen. Die Leute vom Fenn sind nicht vom gleichen Volk wie die Alten Wealdländer, und sie sprechen auch nicht deren Sprache. Und doch empfand ich es fast so wie eine Reise in die Vergangenheit des Weald. Am ehesten ähnelte es noch einer ausgelassenen Feier mit geröstetem Fleisch unter freiem Himmel. Gewiss, es gab ein paar Rituale, ehe die Tiere geschlachtet wurden, und die Sumpfleute sangen dazu. Aber wir beten über dem zubereiteten Fleisch, und sie taten es halt vorher. Wo ist da der Unterschied?«

Sie dachte einen Augenblick nach und fügte dann einschränkend hinzu: »So sah es zumindest meine Freundin. Der Geistliche aus der Burg war da anderer Ansicht, aber die beiden waren selten einer Meinung. Ich denke, es machte ihr einfach Spaß, ihn zu ärgern.«

Nun, die Einwände der quintarischen Geistlichen galten nicht der Speisefolge: Die Sippen des Alten Weald hatten nicht nur das Fleisch der heiligen Tiere zu sich genommen, sondern ihre Stammeszauberer hatten auch die Seelen der Opfertiere auf ihre Kriegsherren übertragen. Das sollte den Geist ihrer Anführer schärfer und wilder machen — aber es sorgte zugleich dafür, dass ihre Seelen verunreinigt waren und am Ende des Lebens von den Göttern nicht erreicht werden konnten. Ingrey bezweifelte allerdings, dass bei der Feier, die Ijada erlebt hatte, irgendetwas anderes als Fleisch verzehrt worden war: Sonst hätte das Mädchen wohl kaum zusehen dürfen. »Man sagt, die Sumpfleute würden sich mit Blut bemalen.«

»Nun«, entgegnete sie nachdenklich, »das stimmt so weit. Auf jeden Fall rannte jeder hinter dem anderen her, und sie bespritzten sich gegenseitig und lachten dabei lauthals. Es war eine sehr schmutzige und alberne Angelegenheit, und es roch auch ziemlich. Aber es fällt mir schwer, darin etwas Böses zu sehen. Aber natürlich hat dieser Stamm keine Menschen geopfert.« Sie blickte über die Lichtung, als würden sich vor ihrem inneren Auge die Geisterbilder einer solch üblen Mordtat formen.

»Allerdings«, sagte Ingrey nüchtern. »Genau das war der springende Punkt zwischen den darthacischen Quintariern und den Alten Wealdländern.« Obwohl beide Seiten dieselben fünf Götter verehrt hatten. »Als daher Audar, der so genannte Große, viertausend wealdische Kriegsgefangene auf dem Blutfeld dahinschlachtete, da betete er nicht, so sagt man. Und ich nehme an, das machte es zu einer anständigen, quintarischen Tat und ließ es nicht zu einer Ketzerei werden. Es war vielleicht ein Verbrechen, aber kein Menschenopfer. Das ist einer dieser feinen theologischen Unterschiede.«

Das Gemetzel an einer ganzen Generation junger Totemkrieger hatte jedenfalls dem wealdischen Widerstand gegen die östlichen Eindringlinge das Genick gebrochen. Während der nächsten 150 Jahre hatte man die Wealdländer und ihre Religion mit Gewalt nach darthacischem Vorbild umgeformt, bis Audars gewaltiges Reich in den blutigen Auseinandersetzungen seiner deutlich weniger »großen« Nachfolger zerbrach. Der orthodoxe Quintarismus überlebte jedoch das Reich, das ihn genährt hatte. Auch im erneuerten Weald blieben die verbotenen Tierriten und die Legendengesänge der Waldstämme verloren und vergessen — von bäuerischem Aberglauben, Kinderreimen und Gespenstergeschichten abgesehen.

Oder vielmehr nicht ganz vergessen, nicht von Jedermann. Was hast du dir nur dabei gedacht, Vater? Warum hast du mich mit dieser verderbten Blasphemie beladen? Was hast du vorgehabt? Die alte, schmerzliche und unbeantwortete Frage … Ingrey vertrieb sie aus seinen Gedanken.

»Ich würde sagen, wir sind nun alle Neue Wealdländer«, überlegte Ijada. Sie berührte ihr typisch darthacisches, dunkles Haar und nickte in Richtung auf Ingreys Schopf. »Heute hat fast jede wealdländische Sippe auch darthacische Vorfahren. Und so haben wir die Sünden Audars und die der alten Stämme geerbt. Soweit ich weiß, war auch mein Vater aus Chalion zum Teil darthacischer Herkunft. Die Adligen in seiner Heimat sind wirklich ein gut durchmischter Haufen, so sagte er immer, auch wenn sie sich viel auf ihre Stammbäume einbilden.«

Ingrey biss vom Fleisch ab, kaute und schwieg.

»Als Euer Vater Euch den Wolfsgeist gab«, setzte sie an, »wie …«

»Ihr solltet essen«, unterbrach er sie mit vollem Mund. »Wir haben noch einen langen Ritt vor uns.« Er stand auf und entfernte sich Richtung Wagen und Proviantkörbe. Eigentlich wollte er keinen Nachschlag, aber er wollte sich auch kein weiteres Geplapper anhören.

Ingrey suchte sich einen Apfel heraus, der nicht allzu wurmstichig war, und knabberte langsam daran, während er umherschlenderte. Solange die Rast dauerte, hielt er sich immer auf der anderen Seite der Lichtung auf, so weit von Ijada entfernt wie möglich.

Am Nachmittag wichen die zerklüfteten Berghänge sanfteren Steigungen, und immer öfter passierte der Leichenzug kleine Weiler mit ausgedehnten Feldern. Die Sonne fächerte bereits schräg durch die Wipfel der Bäume, als sie auf ein unerwartetes Hindernis trafen: Eine felsige Furt, die auf dem Hinweg nur knietief gewesen war, war von den Regenfällen angeschwollen, und nun wälzte sich dort ein schlammiger und übervoller Strom.

Ingrey zügelte sein Pferd und dachte über das Problem nach. Der Wagen mit Bolesos Sarg war nicht durch eine Bespannung oder Teer abgedichtet worden. Also war kaum damit zu rechnen, dass er zu stark ins Schwimmen geriet, vom Wasser fortgedrückt wurde und die Pferde von den Beinen riss. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er Wasser zog und versank.

Ingrey postierte Berittene mit Seilen an den vier Ecken des Karrens, wo sie helfen sollten, das Gefährt durch die Gefahr zu bugsieren. Dann gab er dem Gespannführer ein Zeichen, die erschöpften Zugtiere mit größtmöglicher Geschwindigkeit voranzutreiben. Das Wasser schäumte den Pferden bis gegen den Bauch und hob die Räder des Wagens vom Boden an, doch die Posten hielten ihn auf Kurs, und die ganze Seilschaft gelangte glücklich ans andere Ufer. Erst dann ließ Ingrey Lady Ijada vor sich ins Wasser reiten.

Kurz blickte er auf und vergewisserte sich, dass der Wagen am gegenüberliegenden Ufer gut vorankam. Doch im selben Augenblick sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung, und sein Blick zuckte zurück: Ijadas Fuchsstute rutschte aus, suchte im Wasser nach Halt und kippte dann kopfüber in den Fluss. Lady Ijada wurde von der Strömung fortgerissen, ehe sie auch nur aufschreien konnte. Ingrey fluchte, dann trieb er sein Pferd in die Fluten. Hektisch sah er hin und her, suchte dunkles Haar oder dahintreibenden braunen Stoff inmitten des schäumenden, trüben Stroms. Ihre Kleidung würde sich gewiss vollsaugen und die Röcke sie hinunterziehen … da!