Als Kind warst du immer der Gangster, der Indianer, der Seeräuber, und du liegst im Gras hinterm Haus und blickst in den Himmel und hörst die anderen, wie sie schreien, hörst die Zündplättchen knallen, Peng! Peng! Peng! und du denkst, dass Sterben vielleicht ganz einfach ist. Du hast dich immer gefragt, ob es Menschen gibt, die nicht sterben müssen, Halbgötter, von denen hast du gelesen, du hast viel gelesen damals, aber so viel wieder vergessen, konntest schon in der ersten Klasse besser lesen als die meisten deiner Freunde, Herakles, aber ist der am Ende nicht auch krepiert, nach all seinen Prüfungen? und Thor, das war doch dieser Nordmann mit dem Zauberhammer, ein Gott? ein Halbgott? oder doch nur ein Mensch? … Mussten die nicht immer die Früchte von diesem Baum essen, damit sie die Zeiten überdauern? Hast du das wirklich geglaubt, als du Kind warst? Einmal bist du in den Botanischen Garten gegangen und hast dir die exotischen Pflanzen und Bäume angeguckt, kurz bevor sie zumachten am Abend, hast extra deinen kleinen Rucksack mitgenommen, Campingbeutel hieß der, war der rot oder blau? alle hatten so einen Rucksack, so einen Campingbeutel, den gab’s nur in diesen beiden Farben, und auf den Wandertagen und Schulausflügen gab es die Roten und die Blauen. Bestimmt hast du Rot gehabt, denkst du, ein guter Witz, das Schicksal, Vorbestimmung, an sowas glaubst du manchmal, auch wenn du die Götter abgehakt hast.
Du hast den Rucksack vollgestopft, wie alt warst du da, neun, zehn? hast Feigen, Kaktusfeigen, Granatäpfel, Guaven und wie dieses ganze Zeug auch immer hieß, abgerissen, bist über die Absperrschnüre in die Beete gelatscht, die Zweige und Blätter im Gesicht, das sieht gut aus, und das auch! und diese kleinen steinharten Knollen, deren fremde Namen du nichtmal richtig entziffern konntest … Und dann die Angst.
Der Pförtner oder irgendein Aufpasser hat dich angesprochen, als du gehen wolltest, ich muss einen Vortrag halten in Biologie, exotische Pflanzen, Bromeliengewächse, hast du gesagt, das hast du in einem Lexikon gelesen, verrückt, dass dir das jetzt wieder einfällt. Gestottert hast du, und dieses Brennen und Ziehen im Unterleib, bis runter in die Eier, das wirst du nie vergessen, weil es später immer mal wiederkam, auch Jahrzehnte später, Jahrzehnte … Wie gewaltig das klingt, das ist jetzt fast dreißig Jahre her, und damals hattest du noch nicht die Kraft, es als Lust zu empfinden, als Ansporn … Dann musst du eher kommen, hat dieser Typ gesagt, ein alter Mann, der Wächter der Lebensbäume, du musst eher kommen, da sind unsere Studenten da, die können dir viele hilfreiche Sachen sagen, damit dein Vortrag richtig gut wird. Der Alte hört nicht auf zu erzählen, und er steht ganz dicht vor dir, und hinter dir die Blätter und Zweige, und er spricht so feucht und riecht sauer aus dem Mund, dass du dich abwenden möchtest, und du spürst die Früchte und Knollen auf deinem Rücken durch den Stoff. Der Alte streicht dir durch die Haare, seine Finger sind so hart und schwielig wie diese langen Knollen, die du vorhin erst befühlt und dann abgerissen hast. Komm doch morgen nach der Schule, wann musst du denn deinen Vortrag …, und dann sind unsere Studenten hier … Du bist nie mehr in den Botanischen Garten gegangen, und die Finger des Alten waren noch auf deinem Kopf, als du schon längst zu Hause warst.
In deinem Zimmer hast du deine Beute mit deinem Taschenmesser zerkleinert, wie lange das gedauert hat, und die kleine Klinge war viel zu stumpf. Du bist in die Küche gegangen und hast ein großes Brotmesser geholt, das besonders scharfe, und dann hast du alles in dich reingeschlungen, weil du so lange leben wolltest wie Thor und Herakles. Geschissen und gekotzt hast du, die Götter hätten es nicht besser gekonnt, noch den nächsten Tag, dass du nicht zur Schule gehen konntest, und als du wieder gesund warst, hat Mutter dich geprügelt, und das hat sie sonst nie gemacht, mit dem Pantoffel, und geheult hat sie und geschrien:»Junge, mach mir nie wieder solche Angst!«
Du liegst auf dem Rücken und hörst das Knallen der Zündplättchen, Peng! Peng! Peng! und blickst in den Himmel, die Sterne … Alex muss in den Stein, wenn es schlecht läuft, das Pflaster ist kalt unter dir, es war so schön, auf der Wiese zu liegen, ob ihm die Anwälte helfen können? Deine Anwälte sind die besten in der Stadt, und nicht nur in der Stadt, wie oft haben sie dich rausgehauen, wie oft haben sie deine Leute rausgehauen und deine Mädels, auch die Beatriz vor kurzem, als das Mädchen bei Lady Kira halbtot im Schrank hing, aber Alex hat wieder mal Scheiße gebaut, du hast es ihm immer wieder gesagt:»Wenn du nicht aufpasst, musst du weg, und ich brauche dich hier.«
Und diesmal wird’s schwer, ihn aus der Sache rauszuhauen, du weißt das, auch wenn er’s noch nicht wahrhaben will. Vielleicht wolltest du deshalb nicht, dass er mitkommt heute, in dieser Nacht, und wenn du wieder auf den Beinen bist, wirst du dafür sorgen, dass seine Zeit kurz wird dort. Im Ring ist er kein König, aber ganz gut, nein, du hast keine Sterne gesehen, die Wolken treiben immer noch über den Nachthimmel, und auch wenn sie nicht da wären, man sieht keine Sterne hier, nicht einmal draußen bei dir am See siehst du die Sterne so, wie du sie auf dem Land siehst, in den Bergen, wenn dir hier alles zu viel wird. Im Ring ist er kein König, obwohl er ganz gut ist, ein Graf vielleicht, aber auf der Straße …, so wie du früher … Wie oft hast du ihm gesagt in der letzten Zeit:»Einen Kampf gewinnst du am besten, indem du ihn vermeidest. «Du hättest sowas nie gesagt, früher … AK 47. Was das für Zeiten waren. Ist das jetzt die Quittung für all die Gewalt, das Schicksal, an das du manchmal noch glaubst? Blödsinn, nein! Du wärst nicht dort, wo du jetzt bist, ohne all das, ohne die Kämpfe, ohne die Fäuste, vergiss die Straße und den Dreck, in dem du jetzt liegst, du bist oben, verstehst du, oben! Und du willst noch weiter und höher kommen, und deswegen musst du hier weg und zurückschlagen und alles ins Reine bringen! Und du schreist und wunderst dich, wie hoch und dünn deine Stimme klingt. Vergiss deinen Stolz und schrei! Schrei um Hilfe. Und dann versuchst du, dein Handy wieder zusammenzubauen, aber der verdammte Akku ist unter das Auto gerutscht. Wieso hast du dein anderes Handy zu Hause gelassen? Du wärst früher nie mit nur einem Handy in die Nacht gegangen … Aber früher war ein Handy groß wie ein Ziegelstein, einen Ziegelstein hättest du auf seinen Schädel krachen lassen sollen, immer und immer wieder, bis er am Boden und im Dreck gelegen hätte, und das Pflaster wäre dunkel geworden unter ihm, und du hättest den Stein mitgenommen und ihn da vorne von der Brücke in den Fluss geworfen.
Jemand muss dich hören, so laut, wie du brüllst, vielleicht hat jemand schon längst die Bullen gerufen, vorhin, als es passiert ist, und laut genug war es ja. Und du erinnerst dich, dass du eine Uhr trägst, du hebst den Arm ein wenig, dass der Ärmel verrutscht, und siehst auf deiner Breitling & Söhne, früher hast du mal eine Rolex gehabt, dass du höchstens zehn Minuten hier liegst, und du wunderst dich nicht, denn du weißt, dass die Zeit …, als würden die Früchte von damals doch noch wirken, anders, als du gedacht hast …, du stürmst in die Bar, Alex und die anderen sind neben dir, keine Zündplättchenpistolen mehr, und ihr schlagt und prügelt, mit Fäusten und Knüppeln, und das Krachen und Splittern und Schreien, Typen, die zur Seite wegspringen und doch erwischt werden, Typen, die sich unter den Tischen ducken und verkriechen und doch erwischt werden, das Großmaul, das die Treppe hoch will und doch erwischt wird, und dann spürst du wieder die Hände des Alten, ganz langsam gleiten sie über deinen Kopf.