Ein Kind ist gestorben, da vorne an der Brücke, vor ein paar Wochen. Du hast es in der Zeitung gelesen. Ruderverein für Kinder, sie sind mit ihren Booten zu nah ans Wehr gekommen, und zwei Boote sind in die Strömung geraten und den kleinen Wasserfall runter, die anderen Kinder aus den beiden Booten konnten sie rausholen. Ein Kind liegt noch im Koma. Der Junge ist erst nach Tagen wieder aufgetaucht. Etliche Kilometer weiter. Die Strömung. Du warst an diesem Tag drüben am Straßenbahnhof gewesen, hast bei den Mädchen nach dem Rechten geschaut. Und hast dich gewundert, was der Hubschrauber da am Fluss will. Er kreiste eine Weile über der Brücke, bevor er gelandet ist. Du hast am Fenster gestanden, die Mädchen hinter dir, und das schrille Quietschen der Straßenbahnen, und dein sechster, siebter, achter Sinn hat dir gesagt, dass dort, wo er landet, der Tod ist. Und jetzt liegst du nicht weit davon … Dein Junge darf nie rudern auf dem Fluss.
Du bist froh, dass er jetzt nicht in der Stadt ist. Du hast ihn auf eine Schule geschickt, außerhalb.
Du siehst die Wolken ziehen. Du spürst, dass es kühl herüberweht vom Fluss. Du siehst die dunklen Türme des alten Stadions. Ein Auto fährt langsam auf der Gegenspur. Es fährt weiter Richtung Ampel, die gelb blinkt.
Du kannst einen Kampf nur gewinnen, indem du ihn vermeidest. Der Bielefelder hat dir das damals gesagt. Aber das ist Unsinn, Bielefelder! denkst du. Jetzt siehst du, dass es Unsinn ist, Bielefelder. Aber wenn Alex drauf gehört hätte, müsste er nicht in den Stein. Dir ist schwindlig, und du spürst nur noch deinen Kopf und bewegst ihn auf dem Pflaster hin und her. Du hörst Sirenen. Sie kommen, denkst du, endlich kommen sie.
Der Bielefelder wollte damals hier einen großen Laden aufmachen, Anfang der Neunziger, ein Eroscenter, fünfzig Zimmer oder mehr, und später haben’s seine Leute auch gemacht. Du hast dich oft mit ihm getroffen in der Zeit. Du hast mit deinen Leuten damals Einiges überrannt. Nach oben und immer weiter, Thor mit seinem Hammer, du wolltest Geschäfte machen, gute Geschäfte, und dafür hast du investiert. Fäuste und Scheine und noch viel mehr. War ein guter Mann, der Bielefelder. Alte Schule, so wie sie drüben im Westen sagten, damals. Aber er ist in den Krieg gekommen, hier in die Stadt, wo keiner die alte Schule kannte, der Bielefelder, damals.
Dein Freund Schweine-Hans, war er nicht ursprünglich Schlachter oder Fleischer oder sowas gewesen? hat immer gesagt:»Das Vieh wurde geschlachtet, und jetzt will jeder seine paar Kilo Fleisch!«
Er ist zu dir gekommen, der Bielefelder, weil er wusste, dass er mit deinem Rollkommando verhandeln muss. Hat er dir nicht mächtig imponiert damals? Ein großer Kerl, graue Haare, bester Zwirn, und breite Schultern unter dem besten Zwirn, Davidoff Filter, und ein Bein hat er etwas nachgezogen, aber mit Würde, und ein Stock dazu, mit silbernem Knauf, ein Löwenkopf, der Knauf und der Mann, bestimmt schon sechzig. Er wusste, wie er dich auf seine Seite bringt. Hat dir gute Scheine in Aussicht gestellt, wenn du ihn nicht bei seinen Geschäften störst, und deine Leute könnten die Security, und wenn du jemanden kennst, der seine Mädchen unterbringen will, erste Wahl, wenn du das willst, und sein guter Name, gute Kontakte, und einige Leute mit Geld hinter ihm … Alte Schule, und du hast langsam begriffen, was das heißt.
Und jetzt leckst du dir mit der Zunge über die Lippen, mit deiner Zunge, die taub ist, und du spürst den kalten Schweiß, der dein Gesicht nass macht, das ist also der Regen, die Wolken da oben sind ganz friedlich, und du fragst dich, warum dich der Typ vorhin nicht erledigt hat, und du hörst die Sirenen ganz in der Nähe. Und dann kriechst du ein paar Meter, ach was, Zentimeter, und Peng! Peng! Peng! bist du wieder auf der Wiese hinterm Haus, wie weich das ist, und sagst dir, dass Sterben einfach scheiße ist, und blickst in den Himmel, wo die Sonne und die Sterne und kein Mond und die Planeten, dein Großvater hat dir mal den Mars gezeigt, der glühte rötlich irgendwo ein Stück überm Horizont … Und schwarz auf einmal, so schwarz, dass dir eine Angst die Eier zerreißt.
Ein dünner Schlauch in deinem Arm. Zwei Sanitäter. Dann eine Decke. Die Sirene fern, als wenn noch ein zweiter Wagen heulend nebenherfahren würde. Das Auto schlingert. Bremsenquietschen? Die Sanitäter hantieren. Du bist noch da. Wieder da. Dann wieder Dunkel. Die Sirene mal laut, mal leise. Du bist noch da. Nicht unter die Decke, bitte. Nicht über den Kopf, bitte. Du willst nicht unter die Decke und versuchst, dich zu schütteln, die Decke verrutscht, du hebst den Kopf ein wenig und siehst deine Beine, die Hose ist zerschnitten, du siehst dein Fleisch, dunkelrot und weiß und zerfetzt und fast schwarz. Wo hat es angefangen? Deine Augenlider flackern, das Licht wie ein Stroboskop. Oben an der Küste. Du wärst so gern am Meer. Diese Bar. Wie hieß sie noch gleich … Der Name eines Vogels. Pelikan … Ein weißer Schwan auf dem Schild über der Tür. Goldmuschi. Und wie sie abkassiert hat. Das hat dir mächtig imponiert. Goldmuschi und die anderen, und alles auf eigene Rechnung, die größte Kuppelbar der DDR, Seemänner aus der ganzen Welt und Dollars, als wäre es L. A. So ein Laden, und die Prozente an mich, irgendwann. Du hörst Goldmuschi lachen, und sie verschwindet mit drei kleinen Philippinos. Short time, nannten sie das, drei hintereinander, hundert Dollar, die waren zweitausend Mark wert bei den Kursen auf dem Schwarzmarkt, im Stehen und nichtmal ein Bett, was für ein Geschäft, hast du gedacht und dein Bier getrunken, Goldmuschi, Koffergriff und die anderen, und du gibst ihnen die Betten, Mister Manager, irgendwann. Du sitzt an der Bar und lachst und glaubst an das Schicksal. Sie sagen was zu dir, fassen dir auf die Schultern und drücken dich vorsichtig auf die Trage, während das Auto rast, und du wirfst dich hin und her, musst alles begreifen, die Decke, und dann beruhigst du dich langsam, warum sollten sie dir die Decke über den Kopf ziehen? du spürst es bis in deinen Unterleib, wie das Auto rast. Alles ist nass, und sie hantieren, und du willst was sagen, aber dein Mund ist so ausgetrocknet, dass du nichts sagen kannst. Wasser, willst du sagen. Wasser. Du wärst so gerne am Meer.
Das Blut, woran hat dich nur das viele Blut erinnert? Du hast viel Blut gesehen, vor allem Anfang der Neunziger. Du fragst dich, ob der Bielefelder mal jemanden umgelegt hat, er ist seit vierzig Jahren im Geschäft, war auch mal in Hamburg, hat er erzählt. Gewalt schadet dem Geschäft, hat er immer gesagt, aber da ist was in seinen Augen, und dein sechster, siebter und …, du musstest dein Geschäft erst aufbauen, und das Blut, du weißt, dass das alles nötig war …, du wärst nicht dort, wo du jetzt bist. Du hebst die Hände ein wenig, hältst sie ins Licht der Deckenlampe, es ist gut, denkst du, dass das Licht die ganze Nacht brennt. Du bist noch schwach, hast viel davon verloren, woran du die ganze Zeit denkst. Sie hätten nicht viel später kommen dürfen. Du hattest Alex nur kurz am Telefon, darfst noch keinen Besuch empfangen.»Die verdammten scheiß Kanacken!«Was hat er gesagt? Hat Claudia nicht angerufen? Und dein Sohn? Die Tabletten und das Zeug, das in deinen Arm tropft, verwirren dich, du hast über zwanzig Stunden geschlafen, du spürst die Einstiche an den Armen von den Transfusionen. Viel haben sie dir gegeben, neues, unverbrauchtes, und das wird dich stark machen. Hat Alex Namen genannt, wissen sie, ob Edo ihn geschickt hat? Du versuchst, alles in deinem Kopf zusammenzusetzen, aber kannst es immer noch nicht richtig greifen, du weißt, du brauchst Zeit, dann wirst du die Antworten finden. Dieser Typ, der Vater von dem Mädchen damals, hat gedroht, dich umzubringen, obwohl du gar nichts mit der Sache zu tun hattest. Nein, so eine Schweinerei würdest du nie … Aber dieser Idiot ist dort hingegangen, wo du warst. Nach oben. Aber noch bist du nicht ganz dort, vielleicht wird das jetzt der letzte Schritt, ein Wink des Schicksals, an das du manchmal noch glaubst. Wieso hat er so lange gewartet? Das muss dreiundneunzig gewesen sein. Und er ist vier Jahre später gekommen. Nein, du hattest nichts zu tun damit. Aber du hast es gewusst, alle haben es gewusst. Und dann ist er aufgetaucht und ist zu dir gekommen, weil er dachte … Was hat er gedacht, dieser Idiot?» Wenn du deine Drecksfinger mit da drinnen hattest, bring ich dich um!«Sie haben ihn nach draußen geschleift, ein kleiner Mann, eins sechzig, Ex-Jockey, Ex-Trinker, wie du später erfahren hast.»Hörst du, Lude! Dann bring ich dich um!«»Sollen wir ihn …«»Nein. Lasst ihn gehen. Und wenn er nochmal kommt, lasst ihn nicht rein. Mehr nicht. Lasst ihn nur nicht rein. «Du hast ihn schreien gehört, während sie ihn rausschleiften.»Ich bring dich um! Ich stech dich ab!«