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Du hast dich umgehört. Wusstest dann, wo seine Tochter ist. Achtzehn war sie damals, also vierzehn neunzehnhundertdreiundneunzig, und alle haben es gewusst. Von ihr und den anderen.

Dir ist kalt, und du schiebst die Hände unter die Decke. Du hättest den Laden kurz und klein schlagen können, so wie du andere Läden kurz und klein geschlagen hast. Wolltest du damals schon an die Papiere? Staatsanwälte, Richter und Bullen und Geldsäcke, die auf kleine Mädchen standen. Du bist abends allein durch die Straße gefahren, hast ein paar andere Mädchen nach ihr gefragt. Die meisten kannten dich nicht. Mit diesem Dreck hattest du nichts zu tun. Drogenwracks. Fixer. Solche Mädchen arbeiten nicht bei dir. Da hatte der Bielefelder recht,»Drogenmädchen machen das Geschäft kaputt. «Ein bisschen Koka und sowas hat noch keinem geschadet, in Maßen, in Maßen …, aber das … Dir ist schlecht geworden, als du all das kaputte Fleisch gesehen hast. Dunkelrot und weiß und zerfetzt und fast schon schwarz.

Und da stand sie an einer Ecke, direkt vor einem Blumenladen, der auch Zeitungen und Getränke verkauft, die Mädchen, die du nach ihr gefragt hattest, wollten sich in deinen BMW drängen, rieben sich an der Tür, beugten sich über die Motorhaube, und du hättest kotzen können, obwohl, wenn die Nadel nicht wäre, könntest du ihnen ein Zimmer in einem deiner Objekte geben, ein Hurenentzugsprogramm, das wär vielleicht was, aber ohne den Suchtdruck würden sie wahrscheinlich sonstwas machen, Verkäuferin in einem Laden für Blumen und Zeitungen und Bier, was für eine Mischung! und die meisten haben die Syph oder den Tripper oder vielleicht sogar Aids, die bumsen doch ohne, sonst würden diese ganzen Penner, die hier langsam mit ihren Karren vorbeifahren, die Augen groß wie Fünfmarkstücke, zu deinen Mädels kommen.

Du hast sie gleich erkannt, dein siebter, achter Sinn …, sieht dem Vater ein kleines bisschen ähnlich, und dessen Gesicht wirst du nie vergessen, wie es geschrien hat. Und dann sitzt sie neben dir, genauso klein und schmal wie der Vater, kurze struppige Haare, Pickel auf der Stirn und im Gesicht, mit Schminke verkrustet, ein Minirock wie ein Gürtel, ein T-Shirt, durch das du ihre mageren Brüste und die Nippel siehst, als wäre sie noch vierzehn, wie damals, aber da kanntest du weder sie noch die anderen, hattest nichts damit zu tun, und sie erzählt dir, was sie alles macht und für wie viel, und das ist wirklich nicht viel, und du überlegst dir, ob sie das auch mit vierzehn gemacht hat und ob sie da clean gewesen ist, als die Säue über sie drübergerutscht sind, erinnerst dich, dreiundneunzig kam man hier auch schon an jeder Ecke an Heroin, überlegst, ob die Papiere und die Filme das wert sind, dass du damals stillgehalten hast, überlegst, ob vielleicht nicht so oder so alles so gekommen wäre, wie es jetzt ist, aber weißt, dass das damals sie kaputtgemacht haben muss. Sie fingert an dir rum, und du sagst:»Lass das «und gibst ihr Geld und sagst ihr, dass sie gehen soll, und weißt, was sie mit der Kohle machen wird, und denkst, dass du wiederkommen musst, aber vielleicht nicht wiederkommen wirst. Du siehst sie über die Straße trippeln, an dem Laden vorbei und dann weiter Richtung Bahnhof. Du hast ihr eine Menge Geld gegeben, wie erstaunt sie geguckt hat, die Augen groß wie …, aber trüb und rot. Vielleicht ist sie schlau und nimmt irgendeinen Zug, es gibt Nachtzüge nach Paris und Kopenhagen, aber du weißt es besser, der Bahnhof, nachts.

Du hast ein Einzelzimmer, und alles ist weiß und sauber, ein Kunstdruck an der Wand, Blumen, und du erinnerst dich an das Piepen der Notaufnahme, Intensivstation, das gleichmäßige leise Piepen aus all den Betten, dann und wann ein Stöhnen, Schnarchen laut, Schnarchen leise. Der Neuner-Rat, denkst du, die Ritter der Tafelrunde, denkst du, während du schon halb schläfst und woanders bist, du bist weg und wieder da, weg und wieder da, der Neuner-Rat trifft sich bald wieder, und dann musst du fit sein und ihnen zeigen, dass du all das regeln kannst, notfalls alleine, du und Alex und deine Leute. Ein Piepton, langgezogen und nicht enden wollend, und du fasst auf deine Brust und spürst das gleichmäßige Pochen und hörst das gleichmäßige Piepen, der lange Ton wird zu einem Pfeifen, zu einem schrillen Pfeifen in deinen Ohren, in deinem einen Ohr, auf dem anderen bist du fast taub, seit ein Tritt im Ring dir dein Trommelfell zerfetzt hat, und dann die Knarre, die der Typ, der heute kaum noch laufen kann, neben deinem Ohr abgefeuert hat, die Ritter der Tafelrunde, wie gern hast du das gelesen als Kind, König Artus und Parzival, der den Gral gesucht hat, bis er wahnsinnig geworden ist, Sir Galahad und seine Freunde, und du hörst das Trappeln der Ärzte, während du noch halb woanders bist, die Seiten rascheln, die Schwerter klirren, und du am Kopfende mit goldenem Helm, aber wie soll das gehen bei so einem runden Tisch, du hörst ein Husten, ein dumpfes Luftausstoßen, das fast wie ein Brüllen klingt, leben, da will jemand leben, und dann hörst du das gurgelnde Einatmen der Luft. Die Ärzte und Pfleger sprechen leise miteinander, das gleichmäßige Piepen um dich herum, und dein guter alter Sinn kann dir nicht sagen, ob da der Tod war oder ob es weitergeht.

Deine Augenlider flackern, das Licht wie ein Stroboskop, und du siehst Schatten um dein Bett herum. Wie spät ist es? du fühlst nach deiner Breitling, aber die ist weg. Deine Beine sind steif, als wären sie aus Holz, du drehst den Kopf und siehst den Druck mit den Blumen wie einen dunklen Farbklecks an der Wand gegenüber. Du wünschst dir, dass es Tag wäre, aber dann würde das Sonnenlicht ins Zimmer fallen.

Du öffnest die Augen, und du bist nicht allein. Eine Frau sitzt da, auf dem Stuhl an der Wand, direkt unter dem Druck mit den Blumen. Sie ist schwarz, die Haut, und schwarze lockige Haare und ein hellrosa Kleid. Du begreifst nicht gleich, denn das kann nicht sein. Ein paar Afrikanerinnen arbeiten bei dir, am Anfang waren es die Fidschis, jetzt sind es die Afrikanerinnen, aber wieso kommt ausgerechnet diese dich besuchen. Und haben sie dir nicht gesagt, Besuch erst in ein, zwei Tagen. Aber vielleicht hat sie sich reingeschlichen. Ein Mann ist immer unten im Auto direkt vorm Eingang, dafür hat Alex gesorgt, und auch die Bullen passen auf. Aber nur die besten Mädels arbeiten für dich. Du richtest dich halb auf, drehst dich zu ihr. Sie sitzt da, blickt dich an und bewegt sich nicht. Ihr Gesicht wie aus schwarzem Stein.»Arnie«, sagt sie, und ihre Lippen bewegen sich kaum.»Mary«, sagst du, und sie spricht weiter, und das klingt seltsam in dem kleinen Zimmer, das dir vorhin noch so groß vorkam. Irgendetwas stimmt nicht, denkst du, was macht sie hier? und was sie sagt, ist falsch. Du möchtest dich wegdrehen, und jetzt wäre die Decke über deinem Gesicht vielleicht ganz gut, aber sie ist hier. Und als du irgendwann, vorhin oder gestern oder vor Stunden, an das viele Blut gedacht hast, war sie auch hier.»Wir haben damals alles getan«, sagst du. Und das stimmt sogar. Ihr habt ihn erwischt, ein paar Wochen später, und wenn die Bullen nicht dazwischengefunkt hätten, würde er jetzt irgendwo vor der Stadt liegen, und in ein paar Jahren wäre dort das Gras besonders saftig … (Nein, das war nur dein erster Zorn damals, sie war eins von deinen Mädchen, in deinen Räumen, und deine Schultern und dein Nacken und deine Brust haben geschmerzt, als hättest du Gewichte gestemmt, die ganze Nacht und den ganzen Tag, aber ihr hättet ihm wahrscheinlich nur ein paar Knochen gebrochen.)»Er hat mich geliebt«, sagt sie.