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«Vielleicht«, sagst du und versuchst, ganz locker zu sein, aber das Blut und sie kriechen in deinen Kopf, da ist ein Pflaster oberhalb der Stirn, dort, wo du auf die Straße geschlagen bist, vor Tagen, vor Stunden, irgendwann. Der Typ war jung, Anfang zwanzig vielleicht, neunzehn, wie du später erfahren hast.»Du hättest eher kommen sollen«, sagt sie, und das verstehst du nicht und willst es nicht verstehen, denn sie ist doch gekommen. Das Laken unter dir ist nass.»Du solltest nicht hier sein«, sagst du. Und die Schatten, die du vorhin durch deine Augenlider gesehen hast, sind wieder da, und du schüttelst den Kopf, weil da eine Hand in deinen Haaren ist, sie steht jetzt vor deinem Bett, und du ziehst die Decke bis unter deine Nase und spürst deinen warmen Atem auf deinem Gesicht. Wie sie dich anblickt, du kannst das nicht ertragen, du kannst so vieles plötzlich nicht mehr ertragen, und das Zimmer ist jetzt voller Menschen, ihr Atem, ihre Geräusche, ihre Gerüche, sie tuscheln und wispern.»Ich liege vor der Stadt«, hörst du, und du weißt, wo sie liegt, im Moor, weißt es nur ungefähr, hast sonst nichts damit zu tun.»Und bei meiner Arbeit, auf dem Gericht, wie läuft es da ohne mich?«Das hörst du und ziehst dir die Decke bis hoch zu dem Pflaster über deiner Stirn. Denn du weißt, wenn du aufstehst und zwischen ihnen durchs Zimmer humpelst und die Tischschublade aufziehst, liegt dort ein kleiner Mensch drin und lacht dich meckernd an. Lasst mich in Ruhe, denkst du, und vielleicht flüsterst du es auch, geh weg, Mary, denn du hast das alles mitgebracht!

Du stehst vor ihr und blickst auf diese riesige Wunde in ihrem Hals, wie ein schwarzes Grinsen von einem Ohr zum andern.»Da ist ein Typ, Arnie, der kommt immer wieder, der macht mir Angst.«

«Ein Stammkunde, Mädchen, den musst du dir warmhalten, mach ihm ruhig schöne Augen, und wenn es Probleme gibt, ruf mich an.«

Dein Telefon klingelt. Du suchst in deinen Taschen, kein Klingeln, ein Summen und Vibrieren, du hast es leise gestellt. Es fällt runter, der Akku springt raus, wo ist die SIM-Karte? und du rollst dich auf die Seite. Da blinkt und glitzert etwas neben dir. Du greifst danach. Eine Patronenhülse. Die Sirenen werden leiser. Der Boden unter dir ist nass. Du drehst dich wieder. Da vorne blinkt eine Ampel, gelb. Kühl vom Fluss. Du zitterst. Die Türme des alten Stadions. So dunkel.

Die Nacht des Reiters

Sie erzählen sich Geschichten über den kleinen Mann. Dass er nie schläft. Und dass er sucht. Seit vielen Jahren. Jede Nacht. Dass er mal ein berühmter Reiter gewesen ist. Ein Pferdemann. Bevor er anfing zu trinken. Manche erzählen, dass er auch schon getrunken hat in seinen großen Zeiten. Andere sagen, dass sie ihn selbst noch gesehen haben, auf dem Rücken der Pferde. Als sie Kinder waren. Der kleine Mann sucht sein Kind, sagen sie. Seine Tochter. Und dass er nicht mehr trinkt, weil seine Leber kaputt ist. Andere sagen, dass er wieder angefangen hat. Und dass er immer kleiner und dünner wird, weil der Schnaps ihn auffrisst. Und dass er einmal das große Derby gewonnen hat, in den Achtzigern, als sie Kinder waren. Genau wissen sie’s aber nicht. Die meisten sind zu jung, können ihn nicht gesehen haben, als sie Kinder waren, in den Neunzigern, denn da ritt er nicht mehr. Nur jetzt, in den Nächten.»Da habe ich ihn mal gesehen.«

«Ach, gesehen hast du ihn?«

«Ja.«

«Wo denn?«

«Das muss paar Jahre her sein, zwo-drei, zwo-vier …«

«Auch schon wieder lange …, aber nicht so lange. Und seitdem nicht mehr?«

«Aber ich höre ihn manchmal. Hinterm Bahnhof, auf dem Bahnhof.«

«Hören? Du bist doch nicht wieder auf Koks oder rauchst die Diamanten? Kristall?«

«Natürlich nicht, das weißt du doch. Sonst wär ich doch nicht mehr hier, oder?«

«Ja, ja. Nichts gegen eine kleine Nase, wenn du zu Hause bist, ist ja dein Feierabend, aber wenn du richtig cash machen willst über die Jahre, trink Möhrensaft, ACE. Aber Steine, Kristalle …, schlimmer als jede Nase, die Diamanten brennen dich aus.«

«Ich weiß, ich weiß. Das ist schon lange her, Arnold.«

«Ja, ja, ist immer alles lange her. Und da erzählst du mir trotzdem von Hufen, Hufgeräuschen, in der Nacht.«

«Tut mir leid, Arnold, ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

«Schon gut, schon gut. Wir alle träumen mal schlecht.«

«Ich bin dir wirklich dankbar, dass ich bei dir …«

«Tu mir einen Gefallen …«

«Ja?«

«Wenn du arbeiten willst, arbeite. Und zahl deine Miete. Und du zahlst deine Miete. Und wenn du nicht mehr arbeiten willst, sag es mir. Sag es mir einfach. Wenn du nicht mehr kannst. Und wenn du Urlaub brauchst …«

«Ich brauch keinen Urlaub. Und ich bin seit fünf Jahren sauber.«

«Du weißt, dass ich diese Drogenscheiße hasse.«

«Ich weiß das. Und deswegen …«

«Und das ist nicht nur wegen den Bullen oder wegen dem Gesundheitsamt oder wegen irgendwelcher bescheuerter Lizenzen …«

«Nein, ich …«

«Sei still. Lass den Alten bisschen erzählen …«

«Du bist nicht alt, Arnold.«

«Ja, ja. Natürlich nicht. Kennst du das, wenn du im Herbst über alles nachdenkst?«

«Ich weiß nicht. Ja.«

«Ich meine nicht diesen Oktober-Herbst, Indianer-Sommer, wie die Amis sagen …«

«Habe ich noch nie gehört.«

«Wenn alles bunt und golden ist. Und wenn du denkst, der Sommer kommt nochmal zurück.«

«Wie schön du das sagst. Das habe ich immer gemocht.«

«Halt dich fern von diesem Burschen. Denk nichtmal an ihn. Er ist wahnsinnig. Und sucht die Geister, wo sie nicht sind. Nie gewesen sind. Der sucht seine eigenen Geister, aber ist Jahre zu spät dran damit.«

«Die Leute sagen, dass du …«

«Wer sagt das? Wer sagt was?«

«Dieses Haus damals, war das dreiundneunzig?«

«Wie alt warst du da, Baby?«

«Ich weiß nicht. Noch ziemlich jung …«

«Das macht mich wütend. Das macht mich traurig. Dass dir die Leute sowas erzählen …«

«Nein, Arnie, hör zu, das ist doch nur, weil’s jetzt wieder in der Zeitung war …«

«Sei kurz still, Baby, sei kurz still. Und fang nie wieder damit an. Ein Freund von mir sagt immer, Coppenrath & Wiese …«

«Die Tortenfirma?«

«Nicht die scheiß Torten. Die Leute, die du auch kennst, ganz genau kennst. Die denken, dass sie was Besseres sind. Denen die Augenbrauen zucken, wenn sie uns sehen und von uns hören. Halt kurz die Klappe, Baby! Die denken, dass das alles gleich ist. Günther Jauch, Wer wird Millionär. Die denken, dass der Schmutz rot ist. Und hören was und lesen was und denken, der, der da, das ist einer von denen, die, die da, das ist eine von denen …, und denken, das ist alles gleich, dass das alles gleich ist. Und wissen nichts, und wissen gar nichts. Und gehen zu dir und gehen zu den Mädels und erzählen Scheiße und denken …«