Im Strom der Dunkelheit
Aaron Rosenberg
Für meine Familie und Freunde und ganz besonders für meine großartige Frau, die mir geholfen hat, den Strom aufzuhalten.
Für David Honigsberg (1958 – 2007), Musiker, Autor, Computerspieler, Rabbi und ganz besonderer Freund. Zeig dem Himmel, wie man rockt, Amigo.
Erster Prolog
Die Morgendämmerung kroch über das Land und nagte am dichten Nebel, der alles vereinnahmte. Im kleinen Dorf Southshore erwachten die Menschen und gingen ihren Beschäftigungen nach. Das Licht der aufgehenden Sonne wärmte sie noch nicht, aber die Nacht neigte sich unaufhaltsam ihrem Ende zu.
Noch aber lag der dichte Dunst über den schlichten Holzhütten und bedeckte das Meer jenseits des Dorfes. Obwohl nicht zu sehen, war die Brandung, die ans Ufer rollte und sich am Kai brach, deutlich zu hören.
Doch etwas anderes klang darin mit, langsam und gleichmäßig, als würde etwas durch den Nebel gleiten. Das Geräusch hallte von allen Seiten wider, bis die Menschen von Southshore nicht mehr sagen konnten, um was es sich dabei handelte und aus welcher Richtung es kam. Erklang es vom Land hinter ihnen – oder kam es von der See? Schlugen nur die Wellen etwas fester gegen die Gestade, oder war es der Regen, der den Nebel niederkämpfte? –
Oder sollte es sich gar um den Wagen eines Händlers handeln, der einen der Feldwege hinunterfuhr?
Nachdem sie angespannt gelauscht hatten, erkannten sie, dass das merkwürdige neue Geräusch aus Richtung des Wassers kam. Sie liefen zum Strand und versuchten, in der Finsternis etwas zu erkennen.
Was war das für ein Geräusch, und wovon wurde es verursacht?
Langsam begann sich der Nebel zu verändern – als würde er von dem Geräusch vor sich her getrieben. Er wurde dichter und dunkler. Die Finsternis begann Form anzunehmen, bildete eine Art Welle, die auf die Dörfler zurollte.
Sie wichen zurück, einige schrien laut. Die Männer waren mit der See groß geworden, geborene Fischer, die schon alles gesehen zu haben meinten, was mit dem Wasser zu tun hatte.
Doch diese Welle bestand erkennbar nicht aus Wasser, sondern aus etwas gänzlich anderem. Und sie bewegte sich falsch…
Die Dunkelheit näherte sich immer mehr. Sie brachte den Nebel mit sich. Das begleitende Geräusch wurde lauter, dann durchbrach es den diesigen Schleier. Die riesige Welle teilte sich in viele kleinere und nahm dabei… Form an.
Es waren Boote. Die Dörfler entspannten sich, weil ihnen das zunächst einmal vertraut war. Dennoch blieben sie auf der Hut. Southshore war ein winziges Fischerdorf, und seine Bewohner nannten gerade mal ein Dutzend kleiner Kähne ihr eigen. Über die Jahre hatten sie kaum mehr als ein Dutzend fremder Fahrzeuge gesehen.
Und nun, plötzlich, näherten sich ihnen auf einen Schlag Hunderte!
Was bedeutete das? Die Männer umfassten ihre kurzen Holzknüppel, Messer, Hakenstangen, sogar mit Gewichten versehene Netze. Sie warteten gespannt. Immer mehr Schiffe kamen aus dem Nebel, eine endlose Armada.
Mit jeder neuen Reihe Schiffe wuchs die Bestürzung der Fischer. Das waren nicht Hunderte, sondern Tausende!
Mehr Boote, als sie jemals zuvor gesehen hatten. Wo kamen die her? Was konnte ihre Insassen aufs Wasser getrieben haben… und was führte sie nach Lordaeron?
Die Dörfler packten ihre Waffen fester, Kinder und Frauen verbargen sich in den Hütten. Und noch immer erhöhte sich die Zahl der Boote.
Längst war klar geworden, dass das Geräusch von den Rudern stammte, die ungleichmäßig durch das Wasser gezogen wurden.
Das erste Boot legte am Kai an. Jetzt konnten die Einheimischen das erste Mal die Gestalten darauf erkennen. Sie entspannten sich, obwohl ihre Verwunderung wuchs. Es handelte sich um Menschen, darunter auch Frauen und Kinder. Hell- und dunkelhäutige, mit Haarfarben in sämtlichen Schattierungen.
Das waren keine Monster oder irgendeine andere Rasse, von denen die Dorfbewohner bisweilen zwar gehört, die sie aber nie mit eigenen Augen gesehen hatten. Diese Menschen wirkten auch nicht, als wären sie für den Krieg gerüstet. Denn offensichtlich waren die meisten der Ankömmlinge keine Krieger.
Nein, dies war keine Invasion. Es wirkte eher, als wären sie auf der Flucht vor einer schrecklichen Katastrophe. Die Fischer spürten, dass sich ihre Furcht in Sympathie verwandelte.
Was aber konnte eine solche Zahl von Flüchtlingen auf die See hinausgetrieben haben?
Weitere Boote erreichten die Küste, und ihre Besatzungen verließen wankend die unsicheren Planken. Einige brachen auf dem steinigen Strand zusammen und weinten. Andere beherrschten sich besser und atmeten tief durch, als wären sie einfach nur heilfroh, endlich der Wasserwüste entkommen zu sein.
Der Nebel lichtete sich allmählich. Die Morgensonne brach durch und löste die Schwaden mit ihren starken Strahlen mehr und mehr auf. Die Dorfbewohner konnten jetzt vieles klarer erkennen.
Diese Menschen gehörten zu keiner Invasionsarmee. Viele waren Frauen und Kinder, ärmlich gekleidet, die meisten abgemagert und schwach. Es handelte sich um einfache Leute, die eindeutig von großem Unglück betroffen waren. Manche waren so erschöpft, dass sie kaum noch stehen konnten oder wie trunken über den Strand stolperten.
Ein paar immerhin trugen auch Rüstungen. Einer, der sich auf dem vordersten Boot befunden hatte, kam auf die versammelten Dörfler zu. Er war von großer, kräftiger Statur, fast kahlköpfig, mit einem dichten Schnurrbart und einem harten, ernsten Gesicht. Seine Rüstung hatte sich erkennbar in mehreren Kämpfen bewährt, und der Griff seines großen Schwertes ragte über die Schulter hinaus. Seine Hände aber umfassten keine Waffen, sondern zwei kleine Kinder. Weitere liefen neben ihm her und klammerten sich an Rüstung, Gürtel oder Waffenscheide des Kriegers.
Neben ihm schritt ein merkwürdiger Mann daher. Er hatte breite Schultern, war ansonsten aber hager. Sein weißes Haar wehte in der leichten Brise. Er trug ein zerfleddertes violettes Gewand und einen abgewetzten Rucksack. Über einer Schulter lag ein Kind, ein weiteres, das noch aus eigener Kraft gehen konnte, hielt er an der Hand.
Und noch eine dritte erwachsene Gestalt gehörte zu dieser Vorhut: ein junger, braunhaariger Mann mit braunen Augen, der seine Umgebung kaum wahrzunehmen schien. Eine Hand hatte sich in den Umhang des großen Mannes gegraben, um Halt zu finden. Mehr noch als die tatsächlichen Kinder wirkte er wie ein kleiner Junge, der sich verzweifelt an ein Elternteil klammerte. Seine Kleidung war von edler Machart, aber von Wind und Wetter verblichen.
»Seid gegrüßt!«, rief der Krieger und kam mit einem breiten Lachen auf die Dörfler zu. »Wir sind Flüchtlinge, die einer schrecklichen Schlacht entkommen sind. Ich bitte euch um Nahrung und etwas zu trinken, so ihr es entbehren könnt. Und um Unterkunft für die Kinder.«
Die Einheimischen schauten einander an. Dann nickten sie und senkten ihre Waffen. Sie waren kein reiches Dorf, aber auch nicht verzweifelt arm. Und es hätte ihnen schon deutlich schlechter gehen müssen, um Kinder und deren Angehörige abzuweisen.
Ein paar Männer traten vor und nahmen dem Krieger die Kleinen ab, und der Mann mit der violetten Robe führte sie zur Kirche, dem größten und stabilsten Gebäude im Dorf. Die Frauen bereiteten derweil schon töpfeweise Haferbrei und Eintopf zu.
Schnell hatten die Flüchtlinge Unterkunft in der Kirche und unmittelbar davor bezogen. Sie aßen und tranken, teilten sich Stoffe und Mäntel. Es hätte fast ein Fest sein können, wäre da nicht der betrübliche Ausdruck auf den Gesichtern der Flüchtlinge gewesen.
»Unser Dank ist euch gewiss«, wandte sich der Krieger an den Dorfvorsteher, der sich ihm als Marcus Redpath vorgestellt hatte. »Ich weiß, dass ihr eigentlich nicht viel entbehren könnt. Deshalb wiegt das Wenige, das ihr mit uns teilt, umso schwerer.«
»Wir lassen Frauen und Kinder nicht hungern«, antwortete Marcus. Er schaute finster drein und musterte Schwert und Rüstung seines Gegenübers. »Aber erzählt mir doch, wer Ihr eigentlich seid – und warum Ihr hierher gekommen seid.«