Lothar hatte die Diskussion mit einer Mischung aus Belustigung und Schrecken verfolgt. Seine Bestürzung schien die Oberhand zu erringen, als er immer öfter in die Gespräche miteinbezogen wurde. Zeitweilig diente er als Experte in Orc-Fragen. Dann wieder war man an seiner Meinung als Außenstehender interessiert. Sehr selten hatten sie ihm auch einmal die entscheidende Stimme zugestanden, wobei sie raffiniert darauf hinwiesen, dass seine Familie der eigentliche Herrscher dieses Landes gewesen war und er deshalb einige angestammte Rechte besaß.
Die Hälfte der Zeit konnte Lothar nicht sagen, ob sie ihn verspotteten oder anhimmelten. Er wusste, dass einige der Könige etwas von ihm erwarteten. Nur schien sich deren Erwartung ständig zu ändern.
Er würde auf jeden Fall erleichtert sein, wenn die Diskussionen vorbei waren und er zu den Flüchtlingen aus Stormwind zurückkehren konnte. Aus ihnen würde er versuchen, wenigstens eine kleine Streitmacht zu formen.
Als sie darauf warteten, dass König Terenas das Morgentreffen eröffnete, erkannte Lothar, dass die anderen Monarchen ihn beobachteten. Einige, wie Trollbane, taten das ganz offen. Andere, Perenolde und Graymane, verfuhren subtiler und warfen ihm nur ab und zu einen Blick zu. Lothar wusste nicht genau, was vor sich ging, aber es gefiel ihm nicht.
»Sind dann alle anwesend?«, fragte Terenas, obwohl er leicht selbst erkennen konnte, dass dem so war. Dem König von Lordaeron entging nicht sehr viel. »Gut. Wir wissen, dass Eile geboten ist, wenn wir unsere Streitkräfte bündeln wollen, um die Horde aufzuhalten. Und wir haben uns alle auf eine Vorgehensweise geeinigt.«
Die anderen Monarchen nickten, was Lothar überraschte und weiter verunsicherte. Sie hatten immer noch miteinander gestritten, als er in der Nacht schlafen gegangen war. Wann waren sie zu einer Übereinkunft gekommen? Und worum genau ging es hier eigentlich?
Die nächsten Worte des Königs verschafften ihm Klarheit, und Lothar lief es eiskalt über den Rücken, denn ihm war die Bedeutung dieses historischen Moments nur allzu bewusst.
»Dann erkläre ich hiermit die Gründung der Allianz von Lordaeron für beschlossen! Wir stehen vereint zusammen, wie es unsere Vorfahren vor langer Zeit im Reich der Arathi taten.« Die anderen nickten, und Terenas fuhr fort. »Und es ist mehr als passend, dass der Oberkommandierende aus eben diesem Herrschaftshaus kommt. – Wir, die Könige der Allianz, ernennen hiermit Fürst Anduin Lothar, Held von Stormwind, zu unserem Oberkommandierenden!«
Lothar sah Terenas an, der ihn herbeiwinkte. »Das war wirklich die einzige Möglichkeit«, erklärte ihm der König von Lordaeron so leise, dass nur er es verstehen konnte. »Jeder wollte das Kommando, und keiner hätte je einen anderen König auf dem Posten akzeptiert. Ihr seid keiner, und deshalb muss niemand fürchten, jemand hätte eine Sonderbehandlung erfahren. Gleichzeitig seid Ihr durch Eure Herkunft adelig genug, dass sie sich nicht übergangen fühlen.« Der König beugte sich vor. »Ich weiß, es ist viel von Euch verlangt. Und ich entschuldige mich dafür. Ich hätte nicht gefragt, wenn es nicht um unser aller Überleben ginge – wie Ihr selbst uns ja gewarnt habt. Werdet Ihr dieses Amt annehmen?«
Die letzten Worte hatte er lauter ausgesprochen. Terenas’ Stimme klang jetzt wieder formeller. Stille legte sich über den Raum, da jedermann auf Lothars Antwort wartete.
Es dauerte nicht lange. Er hatte eigentlich gar keine Wahl, und Terenas wusste das. Aus dieser Geschichte gab es kein Entrinnen mehr. Nicht jetzt, nicht nach all dem, was bereits geschehen war.
»Ich nehme das Amt an«, antwortete er deshalb, und seine Stimme hallte schwer durch den Raum. »Ich werde die Armee der Allianz gegen die Horde führen.«
»Sehr gut!« Terenas klatschte in die Hände. »Wir sollten jetzt alle unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte und Ausrüstung ergänzen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Woche wieder, um Fürst Lothar unsere Soldaten zu präsentieren. Damit er sieht, welche Streitkräfte ihm zur Verfügung stehen, und er mit der eigenen Planung beginnen kann.«
Die anderen Könige murmelten oder nickten zustimmend. Jeder trat vor, um Lothar zu gratulieren und ihm seine vollständige Unterstützung zuzusagen – auch wenn die Zusicherungen von Perenolde und Graymane etwas weniger aufrichtig klangen.
Dann waren die Könige gegangen, und nur vier Männer blieben zurück. Lothar blickte Khadgar an, der ihn anlächelte.
»Wie die Jungfrau zum Kinde…«, sagte der junge Magier und schüttelte den Kopf. »Und du hast dich da reinreden lassen. Diese cleveren Hurensöhne! Sie würden ihre eigenen Kinder verkaufen, wenn es ihnen einen einzigen Morgen Land mehr einbrächte. Ich fand es toll, wie sie einfach davon ausgingen, dass du akzeptieren würdest… Aber das passiert, wenn du Macht über andere ausübst. Es trübt deinen Blick für die Dinge, die wirklich zählen.«
»Ähem!« Das Hüsteln schnitt dem jungen Zauberer das Wort ab. Er sah zu einem der anderen noch anwesenden Männer auf, dem die Empörung noch im Gesicht geschrieben stand. »Nicht alle Autoritäten sind korrupt und eigennützig, junger Mann«, erklärte Erzbischof Faol. Sein normalerweise freundliches Gesicht wirkte bitterernst. »Es gibt auch solche, die dienen, indem sie führen – so wie Euer Freund.«
»Natürlich, ehrwürdiger Vater. Bitte vergebt mir. Ich wollte Euch nichts unterstellen. Ich meinte nur die Leute, die zeitweise Macht ausüben… Ihr hingegen…«
Es war das erste Mal, dass Lothar erlebte, wie seinem normalerweise glattzüngigen Freund die Worte ausgingen. Und so musste er einfach über die Zwickmühle schmunzeln, in die sich sein Freund manövriert hatte. Und Faol lachte selbst derart gutmütig, dass schließlich auch Khadgar einfiel.
»Genug, Freund«, sagte Faol schließlich und hob eine Hand. »Ich trage Euch Euren Ausbruch nicht nach. Und Fürst Lothar wurde tatsächlich in diese Verantwortung hineinmanövriert. Ich muss sogar zugeben, dass ich daran nicht ganz unschuldig bin. Ihr seid ein guter Mann, und ich glaube, Ihr seid die beste Wahl als Oberkommandierender der Allianz. Jedenfalls bin ich mehr als beruhigt, dass Ihr die Schlachtpläne ausarbeitet und unsere Truppen anführt.«
»Danke, Vater.« Lothar war nie sonderlich religiös gewesen. Aber er hatte großen Respekt vor der Kirche des Lichts. Alles, was er bislang von Faol gehört hatte, erfüllte ihn mit großer Hochachtung. Dass der Erzbischof ihn derart lobte, machte ihn durchaus stolz.
»Ihr werdet Euch beide im Verlauf des Krieges beweisen müssen«, warnte sie Faol. Seine Stimme klang jetzt tiefer und voller als zuvor. Als würde er eine Verkündigung aus sehr großer Höhe vortragen. »Ihr werdet an Eure Grenzen stoßen, nicht nur mit Euren Fähigkeiten, sondern auch mit Eurem Mut und Eurer Entschlossenheit. Doch ich bin mir sicher, dass Ihr diese Herausforderungen meistert und siegreich sein werdet. Ich bete darum, dass das Heilige Licht Euch mit Stärke und Reinheit erfüllt und Ihr die Leidenschaft und innere Balance findet, die Ihr braucht, um zu überleben und zu siegen.« Seine Hand hob sich zum Segen. Lothar glaubte, einen schwachen Schein um die Hand herum zu sehen, ein Leuchten, das sich auf ihn und Khadgar ausdehnte. Danach fühlte er sich friedvoller und gelassener und von einer unerklärlichen Fröhlichkeit erfüllt.
»Da ist noch etwas.« Plötzlich war Faol wieder ein normaler Mensch, wenn auch alt und weise. »Was könnt Ihr mir über Nordhain sagen? Besonders über die Abtei dort. Hat sie die Schlacht überstanden?«
»Leider nicht, ehrwürdiger Vater«, antwortete Lothar. »Die Abtei ist zerstört, nur noch eine Ruine. Ein paar Kleriker haben überlebt und sind nun in Southshore mit dem Rest unserer Leute. Die anderen…« Er schüttelte den Kopf.