»Wart ihr zuvor Ritter?«
»Ja, mein Fürst.«, antwortete der Paladinanwärter. »Aber ich bin ein Anhänger der Kirche und glaube an das Heilige Licht seit meiner Jugend. Ich traf den Erzbischof das erste Mal, als er gerade Bischof geworden war. Er war so freundlich, mein geistiger Ratgeber und Mentor zu werden. Ich war geehrt, als er mir von seinen Plänen berichtete, einen neuen Orden zu gründen – und mir zugleich darin einen Platz anbot.« Uther presste kurz die Zähne aufeinander. »Seit diese bösartigen Kreaturen hier eingedrungen sind, weiß ich, dass wir den Segen des Lichts brauchen, um sie zu schlagen. Um unser Land,unsere Heimat und unser Volk zu beschützen.«
Lothar nickte. Er konnte verstehen, warum der Mann sich den Glauben als Antwort – oder zumindest als Teil einer Antwort – gewählt hatte. Und er bezweifelte nicht, dass Uther ein mutiger Kämpfer auf dem Schlachtfeld sein würde.
Aber etwas am Eifer des Mannes störte ihn. Er vermutete, dass Uther zu sehr auf Ehre und Glauben eingeschworen war, um notfalls weniger noble Methoden einzusetzen.
Und das war gar nicht gut. Lothar hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass, wenn man es mit Orcs zu tun hatte, Ehre allein nicht genügte. Um gegen die Horde bestehen zu können, musste man jedes Mittel nutzen.
Er und Khadgar verbrachten die nächste Stunde damit, sich mit den vier potenziellen Paladinen zu unterhalten. Lothar war erfreut, dass sein junger Freund sie ebenfalls befragte.
Nachdem die heiligen Krieger gegangen waren, um sich zur Nachmittagsandacht zu begeben, schaute Lothar den alt wirkenden Zauberer an. »Nun«, fragte er. »Was hältst du von ihnen?«
Khadgar furchte die Stirn. »Ich bezweifle, dass sie uns viel nützen werden«, sagte er wenig später.
»Ach? Und warum?«
»Sie hatten keine Zeit, sich vorzubereiten«, erklärte der Zauberer. »Wir gehen davon aus, dass die Horde Lordaeron binnen weniger Wochen erreichen wird. Wenn nicht gar noch schneller. Keiner dieser Männer war je in einem richtigen Gefecht – zumindest nicht als Paladin. Ich behaupte nicht, dass sie nicht kämpfen können. Aber Krieger haben wir schon genug. Wenn der Erzbischof Wunder von ihnen erwartet, wird er wahrscheinlich schwer enttäuscht werden.«
Lothar nickte. »Ich stimme dir zu«, sagte er. »Doch Faol vertraut ihnen, und vielleicht müssen wir das auch tun.« Er lächelte schwach. »Nehmen wir mal an, sie wären doch irgendwie bereit. Was würdest du dann von ihnen halten?«
»Uther wird der Horde gefährlich werden, das ist sicher«, antwortete Khadgar. »Aber ich glaube, er kann keine anderen Männer als Paladine befehligen. Seine Frömmigkeit ist zu groß, zu vordergründig, als dass die meisten Soldaten sie ertragen könnten.« Lothar ermunterte seinen Begleiter fortzufahren. »Saidan und Tirion sind fast genauso. Saidan war ein Ritter und Tirion Krieger. Aber seitdem haben sie zum Glauben gefunden. Deshalb könnten sie gehemmt sein, gewisse Taktiken zu nutzen, die sie als einfache Kämpfer noch ohne mit der Wimper zu zucken eingesetzt hätten.«
Lothar nickte. »Und Turalyon?«
»Scheint mir der mit dem wenigsten Glauben zu sein, und deshalb schätze ich ihn am meisten«, sagte Khadgar grinsend. »Er wurde auf die Priesterschaft vorbereitet und ist ein loyaler Gläubiger. Aber er hat nicht den blinden Eifer der anderen. Er blickt auch weiter als sie und ist cleverer.«
»Das sehe ich auch so.« Der junge Mann hatte Lothar ebenfalls beeindruckt. Turalyon hatte zunächst nur zögerlich gesprochen, doch nach einer Weile war klar geworden, wieso. Er hatte von Lothar und seinen Taten in Stormwind gehört und war beeindruckt gewesen. Das wiederum war Lothar unangenehm, obwohl es ihm nicht zum ersten Mal passierte. Viele in seiner Heimat hatten ihn verehrt und darum gebettelt, von ihm ausgebildet und in seine Wache aufgenommen zu werden.
Aber nach dieser leicht verschüchterten Phase war Turalyon aufgetaut und entpuppte sich als kluger junger Mann mit einer wesentlich besseren Auffassungsgabe für Feinheiten als seine Kameraden.
Lothar mochte ihn von Anfang an, und dass Khadgar ähnlich dachte, bestärkte ihn in seiner Ansicht.
»Ich werde mit Faol sprechen«, sagte Lothar schließlich. »Die Paladine sind ohne Zweifel eine wertvolle Unterstützung. Ich werde Uther zu unserem Verbindungsmann zu ihnen und allen anderen Truppen machen, die die Kirche ausrüsten kann.« Dann fiel ihm noch etwas ein. »Außerdem werde ich einen weiteren Kandidaten erwählen«, sagte er. »Gavinrad. Er war einer meiner Ritter in Azeroth. Der Treueste von uns, und ein guter Mann. Ich vermute, er würde einen guten Paladin abgeben.« Er grinste. »Aber Turalyon will ich als einen meiner Offiziere.«
Khadgar nickte. »Eine gute Wahl, wie ich finde.« Er schüttelte den Kopf. »Dann lass uns darauf hoffen, dass uns die Horde genug Zeit lässt, sie und den Rest unserer Truppen darauf vorzubereiten…«
»Wir tun, was wir können«, antwortete Lothar pragmatisch. Er dachte bereits darüber nach, wie er die Truppen aufstellen würde. »Wir werden ihnen entgegentreten, wenn wir es müssen. Sehr viel mehr können wir momentan nicht tun.«
6
Gul’dan war wütend. »Warum seid ihr noch nicht fertig?«, wollte er wissen. Die anderen Orcs zuckten zurück. Sie hatten den Ober-Hexenmeister schon früher manchmal aufgebracht erlebt und wussten, dass er seine furchtbaren Kräfte, wenn er unzufrieden war, auch gegen sie einsetzen konnte.
»Wir tun ja bereits, was wir können, Gul’dan«, antwortete Rakmar beschwichtigend.
Der älteste der überlebenden Orc-Totenbeschwörer, Rakmar Sharpfang, war der inoffizielle Anführer der Nekromanten. Meistens war es an ihm, dem Hexenmeister ihre Fortschritte oder Rückschläge zu melden. »Wir haben die Toten reanimiert. Aber wir konnten ihnen kein Bewusstsein einhauchen. Sie sind nicht mehr als leere Hüllen. Wir können sie wie Puppen herumlaufen lassen, doch ihre Bewegungen sind plump und langsam. Sie stellen für niemanden eine Bedrohung dar.«
Gul’dan starrte auf die Körper hinter Rakmar. Es waren menschliche Leichen, Krieger, die hier in Stormwind getötet worden waren. Sie würden die Horde nachhaltig verstärken, so wie er es Doomhammer versprochen hatte. Allerdings nur, wenn seine nichtsnutzigen Assistenten sie in etwas anderes als tapsige Kreaturen verwandeln konnten!
»Finde einen Weg!«, brüllte Gul’dan. Speichel flog aus seinem Mund. Er ballte die Fäuste und war versucht, die Nekromanten allesamt auf der Stelle niederzustrecken. Aber was hätte ihm das für einen Nutzen gebracht? Tot konnten sie ihm schwerlich helfen.
Ihm kam ein Einfall, und Gul’dan wippte vor Begeisterung mit seinen Fersen. Seine eigene Brillanz verblüffte ihn immer wieder. Natürlich! Das war die Lösung!
»Du hast Recht, Rakmar«, sagte er leise, öffnete seine Hände und strich über seine Robe. »Ich weiß, du tust dein Möglichstes. Wir wollen etwas völlig Neues schaffen. Das wäre für jeden eine große Herausforderung. Ich hätte nicht wütend werden dürfen, weil du noch keinen Erfolg hattest. Bitte, geh zurück an die Arbeit. Ich verschwinde jetzt, damit du in Ruhe weitermachen kannst.«
»Oh… danke«, stammelte Rakmar. Seine Augen waren weit aufgerissen. Gul’dan merkte, dass sein Untergebener von seinem Sinneswandel überrascht war. Genauso wie die anderen Hexer. Er unterdrückte ein Lächeln, nickte ihnen stattdessen zu und ging davon. Sollten sie doch denken, er hätte es sich anders überlegt. Oder dass er sich anderen Dingen zuwenden wollte.